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"Die einzelnen Kräuter so zu dosieren, dass der Likör ein ausgewogenes Aroma bekommt, das ist die Kunst," sagt Toni Vilaire. Gemeint ist der mallorquinische Kräuter-Anislikör "Hierbas", den die Vilaires wie viele mallorquinische Familien zu Hause selbst herstellen. Dazu versammelt sich die Familie, die über die ganze Insel verstreut lebt, stets Ende Mai auf der Finca des Vaters, Tomás Vilaire, in Sineu. Üppig gewachsene Kräutersträucher säumen den Fincaeingang: Rosmarin, Thymian, Oregano, Melisse, Myrte, Minze, Kamille, Fenchel. "Fast zwanzig Kräuter kommen in unseren Hierbas", sagt Toni Vilaire. Beinahe alle davon wachsen auf der Finca.

Zu Beginn des jährlichen Rituals füllt der jüngste Sohn, Narcis Vilaire, eine kleine Emaillewanne mit Wasser. Die Wanne sei achtzig Jahre alt, sagt er. Seine Mutter habe als Baby darin gebadet. Jetzt wäscht Narcis in der Wanne die Kräuter für den Hierbas, die sein Bruder Tomás gerade schneidet und auf einem großen Holztisch ausbreitet. Dort stehen bereits große Glasflaschen, in die die geschnittenen Kräuter mit Stängel und Blättern gefüllt werden - in jede Flasche kommt der gleiche Inhalt. Auch Zitronen- und Orangenschalen, Kaffeebohnen und Kirschen gehören in den Hauslikör. Mit lauter Stimme sagt Toni die jeweils nächste Zutat an. Die drei Brüder konzentrieren sich. "Man muss aufpassen, wieviel man von jedem Kraut nimmt", sagt Toni. Zuviel Orange zum Beispiel mache den Hierbas zu mild, zu viel Minze zu scharf oder zu viel Thymian zu streng. Die Kaffeebohnen dürften unbedingt nur in ungerader Zahl dazugegeben werden, warum weiß allerdings niemand.

Ein striktes Hausrezept wie manch andere Familie haben die Vilaires nicht. Sie experimentieren gerne, sagt Tomás Vilaire Senior. Er beaufsichtigt den Prozess und hilft mit einem kleinen Ast vom Zitronenbaum nach, wenn Kräuter im Flaschenhals stecken bleiben.

Dieses Jahr kommt in jede Flasche zusätzlich eine ganze Kirsche für die Farbe. "Kommerzieller Hierbas ist in der Regel hellgrün, aber die natürliche Farbe ähnelt Bernstein", sagt der Vater mit Blick auf eine Flasche vom Vorjahr und schenkt auch gleich eine Runde aus. Er schmeckt würziger als kommerzieller Hierbas, mild, aber nicht zu süß - und steigt sofort in den Kopf. Mit einem Lachen reicht der Vater Salzcracker "zum Ausgleich".

Nach einer guten Stunde sind die Flaschen dicht mit Kräutern, Zitronen- und Orangenschalen, Kaffeebohnen und Kirsche gefüllt. Jetzt kommt der letzte Schritt: das Aufgießen mit Anislikör. Toni stellt süßen Anislikör mit 40 Prozent Alkohol und trockenen mit 25 Prozent Alkohol auf den Tisch. In den Geschäften könne man süßen, trockenen und gemischten Hierbas kaufen, sagt Tomás Junior: "Wir mögen es gemischt." Die genaue Mischung bestimmt jeder Vilaire selbst. Toni hat es gerne lieblich und füllt seine Flaschen je zur Hälfte mit süßem und trockenen Anislikör. Tomás und Narcis nehmen je zwei Drittel trockenen und ein Drittel süßen Anisschnaps. Am herbsten soll der Likör des Vaters werden.

Nachdem die Flaschen verkorkt sind, müssen sie drei Monate lang gären. "Besonders kühl brauchen sie nicht stehen, aber auf keinen Fall in der Sonne oder Wärme", betont Toni. Geleerte Flaschen könne man erneut solange mit Anislikör auffüllen, bis im nächsten Jahr die Kräuter für frischen Hierbas reif seien. Bis dahin blieben die alten Kräuter in den Flaschen.

"Traditionell trinken auf Mallorca Bauern bereits morgens in der Bar Hierbas", erzählt Tomás Vilaire Senior. In der Familie beschränke man sich auf den Sonntag. "Dann essen wir hier auf der Finca gemeinsam zu Mittag und genießen anschließend zum Kaffee unseren Hierbas."

Der Höhepunkt des Jahres ist aber der Hierbas-Familien-Wettbewerb, den die 14-jährige Enkelin Paula ausrichtet. Zusätzlich zum gemeinsam produzierten Hierbas stelle jeder Erwachsene in der Familie seinen eigenen Kräuterlikör her, erzählt Paula. Den besten davon ermittelten sie jedes Jahr im Oktober. "Bewertet werden auf einer Skala von ein bis fünf Geschmack, Geruch und Farbe." Damit niemand wisse, welchen Hierbas er probiere, kaschiere sie die Flaschen, sagt Paula. Amtierender Champion mit Pokal sei ihr Onkel Toni.

Für heute ist die Arbeit getan. Zum Abschluss gibt es noch ein Gläschen Hierbas vom Vorjahr: "Auf gutes Gelingen!"


WER HAT'S ERFUNDEN?

Die Vorgänger des Hierbas de Mallorca stammen aus den Klöstern, wo die Mönche aus Kräutern und Früchten eine Vielzahl an Schnäpsen und alkoholhaltigen Getränken herstellten. Ab dem 18. Jahrhundert stellten auch die Inselbauern eine Essenz aus Kräutern auf Basis von anishaltigem Schnaps her. Später wurde eine eigene Likörindustrie geschaffen, obwohl auch heute noch viele Familien zu Hause ihren eigenen Hierbas herstellen.

Zur Sicherung der Qualität wurde 2002 die Ursprungsbezeichnung Hierbas de Mallorca zugelassen. Sie definiert den Kräuterlikör aus Mallorca als alkoholhaltiges Getränk mit Anisgeschmack, das vornehmlich aus den Aromen verschiedener, auf der Insel beheimateter Pflanzen erzeugt wird, wie Fenchel, Rosmarin, Zitronenstrauch, Kamille, Zitrone, Orangenblüten.

Je nach Zucker- und Alkoholgehalt werden drei Sorten unterschieden: Süßer Hierbas mit mindestens 20 Prozent Alkohol und mindestens 300 Gramm Saccharose pro Liter. Gemischter Hierbas: mindestens 25 Prozent Alkohol und 100 bis 300 Gramm Saccharose pro Liter. Trockener Hierbas: mindestens 35 Prozent Alkohol und maximal 100 Gramm Saccharose pro Liter.

Aktuell gibt es auf der Insel sieben Produzenten von Hierbas de Mallorca, die im Jahr 2013 zusammen 1,148 Millionen Liter herstellten. Mehr als die Hälfte davon waren gemischte, ein Drittel süße und 20 Prozent trockene Hierbas. Ein knappes Viertel der Produktion geht als Export in die EU, die überwiegende Mehrheit wird auf der Insel verkauft, ein geringer Teil auch auf dem spanischen Festland.

DIE ZUTATEN. Folgende Zutaten kommen bei Familie Vilaire in den Hierbas-Likör: Oregano, Thymian, Rosmarin, Zitronenblätter und -schale, Orangenblätter und -schale, Fenchelsprossen und -stiel, krause Minze, Zitronenmelisse, Pfefferminze, Kamille (Zweige und Blüten), Kirschen, Weinraute, Lorbeerblätter, Salbeiblätter, Myrte, wilde Pistazie, grüne Piniennadeln, Kaffeebohnen.

(aus MM 23/2014)