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Am 29.09. startet die Saison im Trui Teatre unter anderem mit der ersten Sinfonie von Johannes Brahms. Joji Hattori wird dirigieren. (Das komplette Saisonprogramm finden Sie hier.) Der Kartenvorverkauf beginnt am morgigen Montag. Ich möchte Ihnen das Werk hier etwas näherbringen.

Vierzehn Jahre hatte die Schwangerschaft gedauert, und was dann am 4. November 1876 in Karlsruhe zur Welt kam, war keinesfalls ein niedliches Baby, sondern ein Koloss Beethoven‘schen Ausmaßes: die 1. Sinfonie von Johannes Brahms erlebte ihre Uraufführung. In keiner anderen steht ein so großformatiges, raumgreifendes Tor am Beginn, nirgendwo anders stimmt Sie ein derart martialisches Vorspiel ein auf die vier Sätze, die folgen. Sind die Paukenschläge gleich am Anfang die unerbittlichen Schritte des Titanen Beethovens, die Brahms hinter sich zu hören glaubte? „Ich werde nie eine Symphonie komponieren. Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zumute ist, wenn er immer so einen Riesen (gemeint ist Beethoven) hinter sich marschieren hört“ schrieb er noch Anfang 1870 an einen Freund. Da war es bereits acht Jahre her, dass er Motive des ersten Satzes notiert und wieder in die Schublade gelegt hatte. Erst 1874 holte er das Projekt wieder hervor. Der Schatten Beethovens und die Angst, nicht aus ihm heraustreten zu können ohne epigonal zu werden, war ein Grund für den ungewöhnlich langen Schaffensprozess – 14 Jahre übersteigen sogar die „Geburtswehen“ des Vorbilds Beethoven, der sich ja nun gewiss lange gequält hatte, bis er seine „Kinder“ in die Welt der Konzertsäle entließ. Ein weiterer Grund für Brahms‘ Zaudern waren die üppigen Vorschusslorbeeren, mit denen ihn sein Kollege Schumann 1853 in seinem letzten Artikel in der Neuen Zeitschrift für Musik bedacht hatte. Unter der Überschrift „Neue Bahnen“ schrieb er: „Er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg, dort in dunkler Tiefe schaffend … das ist ein Berufener. Am Clavier sitzend, fing er an wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen. … Es waren Sonaten, mehr verschleierte Symphonien, - Lieder, deren Poesie man, ohne die Worte zu kennen, verstehen würde.“ Lob kann manchmal hemmend wirken, vor allem, wenn es von einem Meister kommt.

Wenn wir das Werk heute im Konzertsaal oder auf Tonträger erleben, haben wir den Eindruck, alles müsse von Anfang an so und nicht anders gewesen sein. Alles wirkt „aus einem Guss“, jeder Ton, jeder Akkord scheint an der richtigen Stelle zu stehen. Auf die gravitätische Einleitung mit ihrem Pauken-Ostinato und ihren chromatisch auseinanderstrebenden Linien in Streichern und Bläsern – behalten wir ruhig das Bild vom Riesen Beethoven, der ihn verfolgt, bei – folgt in Takt 38 mit dem Beginn des Allegros der Aufbruch in Brahms‘ ureigene sinfonische Welt.

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Brahms war ein schwerblütiger Norddeutscher aus Hamburg und Schumanns Formulierung „dort in dunkler Tiefe schaffend“ kommt nicht von ungefähr. Brahms so nebenbei hören: das geht nicht. Brahms erfordert Muße und ungeteilte Aufmerksamkeit.

Der erste Satz: er dauert mit rund 15 Minuten fast so lang wie der Kopfsatz von Beethovens Eroica. Zum Vergleich: das Allegro der Jupitersinfonie von Mozart spielt sich in der Hälfte der Zeit ab. Die Besetzung ist an Beethovens Orchester angelehnt: zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Fagotte, Kontrafagott, vier Hörner, zwei Trompeten, drei Posaunen, Pauken und der übliche Streicherapparat. Nach der bereits beschriebenen langsamen Einleitung setzt das Allegro ein, und bereits hier werden Bezüge zur Linienführung des Adagios hörbar. Worin das Hauptthema eigentlich genau besteht, ist selbst für versierte Hörer nur schwer ermittelbar. Es ist eben kein melodischer Kracher, wie er für Mendelssohn, Schubert oder Schumann typisch ist.

An zweiter Stelle folgt ein inniges Andante, sozusagen als Antwort auf den konfliktgeladenen Kopfsatz. Auch der graziöse, brillante, menuettähnliche dritte Satz bringt Licht in die norddeutsche Düsternis. Höhepunkt der Sinfonie ist das Finale. Es beginnt, wie der erste Satz, mit einer riesigen langsamen Einleitung, in der ein Hornthema erklingt, das Brahms in der Schweiz von einem Alphorn gehört und gleich begeistert aufgeschrieben hat. (Melodien erfinden war nicht der Hit seines Komponistendaseins, da war er eben froh, wenn er irgendwo etwas aufschnappen konnte…) Es hat ihm so gut gefallen, dass er den Anfang auf einer Geburtstagskarte an Clara Schumann notiert hat, mit der bekannten Beschriftung „Hoch auf’m Berg, tief im Tal grüß ich dich viel tausend mal.“

Die große Choralmelodie – melodischer Höhepunkt dieses Finales – ist hingegen seine eigene Erfindung, auch wenn es, zumindest im b-Teil, an das Freudenthema im Schlusssatz von Beethovens Neunter (Freude, schöner Götterfunken!) erinnert. Auch die dritte Sinfonie von Gustav Mahler beginnt ähnlich. Haben die Herren alle beide von Beethoven abgeschrieben? Brahms jedenfalls, auf die merkwürdige Beethovenähnlichkeit angesprochen, soll gesagt haben: „Jawohl, und noch merkwürdiger ist, dass das jeder Esel gleich hört.“ Die letzten 70 Takte des Finales bestehen aus einer großangelegten Coda, die das Werk mitreißend beschließt. - Zum Einhören empfehle ich Ihnen die Aufnahme mit den New Yorker Philharmonikern unter Leonard Bernstein. Die gibt’s bei YouTube in voller Länge.