Konzertkritik: Ein vergessenes Genie wird wachgeküsst - das letzte Frühjahrskonzert bei Macia Batle

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Im Jahr 1884 reiste ein junger Mann nach Berlin. Er hieß Miquel Capllonch, stammte aus dem mallorquinischen Hafenstädtchen Pollença, hatte am Konservatorium in Madrid studiert, so erfolgreich, dass er nun, mit 23 Jahren, ein Stipendium erhalten hatte, um seine Ausbildung in Deutschland zu vervollkommnen. Aus den geplanten drei Jahren wurden fast drei Jahrzehnte, und in diesen drei Jahrzehnten entstanden die Lieder, die die Sopranistin Marta Bauzà und der Pianist Jesús López Blanco im letzten und vielleicht spannendsten Frühjahrskonzert in der Bodega Macia Batle einem begeisterten Publikum zu Gehör brachten.

1884, als der junge Stipendiat in Berlin eintraf, war die Zeit der deutschen Hochromantik. Schumann und Brahms beherrschten die Musikszene, und auch seine neuen Lehrer, Karl Heinrich Barth und Heinrich von Herzogenber, vermittelten den Geist dieser Strömung. Das Klavierlied, eines der wichtigsten Genres der deutschen Romantik, hatte eine neue Dimension gewonnen: das Klavier war aus dem Schatten des bloßen Begleiters getreten und untermalte – mit den neuen romantischen Harmonien – den emotionalen Gehalt der Texte. Kaum ein Dichter, der nicht Gedichte hervorbrachte, die dann von Schumenn („Liederkreis«), Hugo Wolf, Brahms und anderen führenden Komponisten dieser Zeit vertont wurden. Sie hießen Justinus Kerner, Theodor Fontane, Emmanuel Geibel (von dem der Taxt zu „Der Mai ist gekommen« stammt!), Elisabeth von Waldersee, August Amann. Ihre Texte thematisierten Sujets wie Naturverbundenheit, Frühling, Abend, Nacht, Abschied, Liebe und Einsamkeit und etablierten nebenbei die gerade wieder neu erwachte Nationalidentität der Deutschen in der Dichtung. Capllonch schrieb unter diesem Einfluss 32 Lieder für Sopran und Klavier. Die Titel lesen sich wie ein Aufzählung der Hashtags der deutschen Liedromantik: Nächtliche Pfade, Zum Abschied, Frühlingsahnung, Nocturne, Sommernacht – um nur einige zu nennen. Das Klavier wird dabei zum Zentrum des musikalischen Geschehens. Ähnlich wie das Orchester bei Richard Wagner. Capllonchs Klaviersatz ist mal filigran und pastellfarben, mal von expressiver Dichte, mal macht er aus dem Lied eine hochdramatische Szene. Diese tragende Rolle, die das Klavier in der Romantik bekam, hat so manchen Pianisten dazu verführt, sich unangemessen in den Vordergrund zu spielen. Der große Liedbegleiter Gerald Moore, langjähriger Partner von Dietrich Fischer-Dieskau, hat sich am Ende seiner Karriere gefragt „War ich zu laut?« und hat diese Frage, wohl, weil sie ihm existenziell wichtig erschien, zum Titel seiner Memoiren gemacht. Nun, davon konnte bei Jesús López Blanco keine Rede sein. Er begleitete mit bescheidener Dezenz und drückte nur da auf die Tube, wo es die Dramaturgie erforderte. Trotzdem erweckte er tonschön und leidenschaftlich alle klanglichen Facetten zum Leben. Ebenso nuanciert und reich an Schattierungen gestaltete Marta Bauzà mit ihrem versatilen Sopran die Gesangslinie. Mit beeindruckender Textverständlichkeit intonierte sie fast Geflüstertes, in den Wind Gehauchtes, eruptiv Dramatisches und selig Wohlklingendes und machte damit das Konzert zu einem berührenden Ereignis. Die beiden Künstler verbanden die einzelnen Nummern des Programms durch einführende Texte, die deutlich machten, mit wieviel Aufwand und Engagement sie das Projekt entwickelt hatten, dessen Ziel es war, bedeutende Musik eines in Vergessenheit geratenen Genies aus dem Dornröschenschlaf der Musikgeschichte wachzuküssen. – Alle 32 Lieder Capllonchs habe die Beiden auch auf CD verewigt. Das Doppelalbum gibt’s in den gängigen Streamingportalen wie Amazon Music und Spotify, für alle Konzertbesucher eine großartige Möglichkeit, den Zauber, den die beiden Künstler ausstrahlten, noch einmal nachzuerleben.