Konzertkritik: Die Magie des Grigory Sokolov

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Sokolov! Klavier-Freaks in aller Welt assoziieren bereits mit dem Namen jenen magischen Zauber, den der mittlerweile 75-jährige Grandseigneur des Klaviers, sitzt man erst mal im verdunkelten Saal, dem Steinway, dieser Drahtkommode mit ihren 88 Tasten, auf so einmalige Weise zu entlocken versteht. Sokolov führt die Stücke, an denen er oft jahrelang gearbeitet hat, ehe er mit ihnen in die Öffentlichkeit geht, nicht einfach auf, er versenkt sich in sie und zelebriert sie mit kontemplativer Ruhe vor einem elektrisierten Publikum, das kaum zu atmen wagt. In einer Ära der digitalen Dauerverfügbarkeit und des Hypes um stilisierte Virtuosität ist jedes Konzert des Meisters ein Unikat und wird zum Ereignis, in dem er die Kunst des Klavierspiels in ein Reich überführt, das sich rationaler Analyse entzieht. Gestern Abend spielte er im ausverkauften Auditorium von Palma Werke von William Byrd und Johannes Brahms.

William Byrd, ein englischer Renaissancemusiker des elisabethanischen Zeitalters, schrieb seine Klavierstücke für das Virginal, ein Kielinstrument aus der Cembalo-Familie, das, bauartbedingt, über so gut wie keine dynamischen Möglichkeiten verfügt. Leben bringt er in seine Kompositionen durch eine reiche Ornamentik, durch ausgeklügelte Polyphonie und meisterhafte Beherrschung der Variationstechnik. Eine überschaubare Zahl von Pianisten, unter anderen Angela Hewitt und Kit Armstrong, macht sich seit Jahren dafür stark, solche barocken Strukturen auf einem modernen Konzertflügel Klang werden zu lassen. Doch während der Auch-Mathematiker Armstrong, für den Klang eine untergeordnete Rolle spielt (wie er mir selbst im Interview sagte) sich bei der Umsetzung weitgehend auf – zugegeben raffinierte – agogische Gestaltung beschränkt, reizt der Anschlagskünstler Sokolov, so auch gestern Abend zu erleben, die ganze dynamische Palette des Steinway aus und setzt damit eine Emotionalität frei, von der viele seiner Kollegen nicht einmal träumen können. Dabei hütet er sich tunlichst davor, Byrd, etwa durch übermäßigen Pedalgebrauch, zu romantisieren. Die Stücke bleiben Renaissancemusik, nur eben im Klanggewand des 21.Jahrhunderts. –

„Am Clavier sitzend, fing er an wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen.« Das schrieb einst Robert Schumann in einem Zeitungsartikel mit der Überschrift „Neue Bahnen« über den jungen Johannes Brahms. Dieses Kritikerlob aus berufener Feder kann man 1:1an Sokolov richten, der nach der Pause Werke des ursprünglichen Adressaten spielte: die vier Balladen op.10 des jungen Brahms und die beiden Rhapsodien op.79. – Die Balladen sind keine bloßen Miniaturen, sondern epische Intermezzi. Sokolov traf den narrativen Charakter dieser Stücke, ohne dabei ihre formale Struktur zu vernachlässigen. Er zelebrierte sie als „Lieder ohne Worte« und rückte sie damit in die Nähe sinfonischer Dichtungen. Ob es nun der sprechende Duktus der ersten, von einem Gedicht inspirierten Ballade, der „Rückzug in die Innerlichkeit« der zweiten, der drängende Charakter – mit einem Hauch von Ironie – der dritten oder die kontemplative, fast schon transzendentale Stimmung der Nummer vier war: Sokolov beleuchtete alle Aspekte mit verinnerlichter emotionaler Tiefe. – Die beiden Rhapsodien gerieten zu einem Fest romantischer Melodik und Harmonik, vor allem in den weitgespannten melodischen Bögen der Nummer zwei. – Von den obligatorischen sechs Zugaben bestach vor allem die vierte, die Mazurka op.68/2 von Chopin, bei YouTube nachzuhören in einer Aufnahme von 2019. Man konnte sie quasi als Quintessenz dessen hören, was Sokolov den ganzen Abend über so beglückend zelebriert hatte: Klangmagie dank höchster Anschlagskunst, Vergeistigung dank konzentrierter Versenkung in den emotionalen Gehalt und, last but not least, makellose technische Meisterschaft. Standing ovations und zehn Vorhänge, verbunden mit dem Wusch, der Ausnahmepianist möge möglichst bald wiederkommen!