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Die Offiziere und Matrosen des deutschen Frachters "Fangturm" wurden vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges ebenso überrascht wie alle anderen Menschen auf dem Globus. Als jene unheilvollen Augusttage des Jahres 1914 ihren Lauf nahmen, befanden sich die Seeleute im Hafen von Palma. Und auch für sie war völlig unklar, wie alles weitergehen sollte.

Ganz Europa war in jenen Tagen in Aufruhr geraten. Das Attentat auf den österreichischen Erzherzog Franz Ferdinand, seit 1896 Thronfolger von Österreich-Ungarn, lag da schon vier Wochen zurück (28. Juni 1914). Nach drei Wochen des Zögerns stellte Österreich - abgesichert durch Deutschland - Serbien ein Ultimatum, am 28. Juli schließlich erklärte die K.u.K.-Monarchie Serbien den Krieg. Als der russische Zar wegen Serbien seine Truppen mobilisierte, erklärte Deutschland am 1. August Russland den Krieg. Einen Tag später besetzten deutsche Truppen Luxemburg und forderten von Belgien freien Durchmarsch. Dass Belgien das Ultimatum zwölf Stunden später ablehnte, machte keinen Unterschied mehr.

Am 3. August erklärte Deutschland Frankreich, dem Verbündeten Russlands, den Krieg, am 4. August erklärte wiederum England Deutschland den Krieg, weil das Kaiserreich die Neutralität Belgiens verletzt hatte. Der britische Historiker Christopher Clark beschreibt in seinem Bestseller "Die Schlafwandler", wie die Politiker der beteiligten Staaten in der "Juli-Krise" vor Kriegsausbruch - Clark nennt sie "das komplexeste Ereignis der Moderne" - in den ineinandergreifenden Entscheidungsprozessen mit geradezu blinder Selbstsicherheit für die jeweils schlechteste Option votierten.

Eine kuriose Ausnahme in diesem Ringen bildete Spanien. Das Land war schon damals gesellschaftlich so tief gespalten, dass die Politiker es nicht wagten, den inneren Status quo anzurühren; aus Angst vor unabsehbaren Folgen. In einer besonnenen Ausnahmesituation entschied sich das Königreich für Neutralität. Sie galt auch für Mallorca, und das war die Situation, in der sich nicht zuletzt auch die Matrosen auf der "Fangturm" wiederfanden.

Das Schiff der Bremer Hansa-Reederei war am Samstag, 1. August, von New York kommend, vor der Insel eingetroffen, und hatte zunächst in der Bucht von Palma geankert. Am Sonntag war das mit 3000 Tonnen Petroleum und 1000 Tonnen Mineralölen beladene Schiff von den Gesundheitsbehörden zum Betreten freigegeben worden und durfte anlegen.

In jener Zeit war die Nachrichtenlage in Europa alles andere als übersichtlich. Bis die Nachrichten-Depeschen der Presse-Agenturen über die politischen Geschehen in den Tageszeitungen auf Mallorca veröffentlicht werden konnten, waren mitunter zwei Tage vergangenen.

Die Meldungen über den Krieg auf dem Kontinent elektrisierten die Menschen auf Mallorca. Die Tageszeitung "Ultima Hora" berichtete täglich und in riesigen Schlagzeilen über die Ereignisse und druckte die Korrespondenten-Telegramme zum Teil rein chronologisch ab, da keine Zeit blieb, die vielfältigen Entwicklungslinien nach jüngster Sachlage zusammenzufassen.

Und auch damals waren die Journalisten der Insel auf der Suche nach verlässlichen Erstquellen, neben dem Agenturmaterial aus dem Ausland. So berichtete das Blatt am 3. August: "Gestern hatten wir die Gelegenheit, mit dem deutschen Konsul zu sprechen, der uns sagte, dass ihm die deutsche Kriegserklärung an Russland offiziell noch nicht bestätigt sei, sehr wohl aber die allgemeine Mobilmachung der deutschen Truppen".

Konsul Alfred Müller war seit 1909 der Vertreter des Wilhelminischen Kaiserreichs. Der Kaufmann, der mit Eisen- und Silberwaren sein Geld verdiente, war einer der bereits damals durchaus anzutreffenden deutschen Händler und Handwerker der Insel, wie etwa Wilhelm Krug, dem aus Danzig stammenden Gründer der "Relojería Alemana" (deutsche Uhrmacherei). Für seine Landsleute hatte Konsul Müller über "Ultima Hora" offiziell weiter mitzuteilen:

"Die Untertanen des deutschen Reichs, die zum Militärdienst verpflichtet sind, haben sich unverzüglich zu diesem Zwecke zu präsentieren, im Kaiserlichen Deutschen Konsulat in dieser Stadt, Calle Concepción 82."

Der Kaiser brauchte Männer im wehrfähigen Alter für seine Truppen und wollte hierbei auch nicht auf seine Untertanen auf Mallorca verzichten.

Den Männern auf der "Fangturm" war zunächst anders beschieden worden. Das Schiff, das sich ursprünglich auf dem Weg nach Indien befunden hatte, wurde bei Ausbruch des Konflikts von der Reederei dahingehend angewiesen, möglichst rasch in einen neutralen Hafen zu flüchten. Der Kapitän hatte sich dann für Palma entschieden. Die Mannschaft erhielt in den Folgetagen den Befehl, an Bord zu bleiben und abzuwarten.

Am 5. August berichtete "Ultima Hora", dass die Mannschaft angewiesen worden war, die Ladung zu löschen und sich dann zum Militärdienst zu melden. Aus diesem Grund wurde die Besatzung an Bord des Fährschiffes "Jaime I" nach Barcelona gebracht. Es ist anzunehmen, dass die Männer vom deutschen Generalkonsulat - wie auch immer - auf den Weg nach Deutschland gebracht wurden, um dort in den Krieg zu ziehen. Die "Fangturm" blieb in Palma zurück.

Der Ruf zu den Waffen ereilte auch deutsche Inselresidenten: Der Uhrmacher Krug aus Danzig war mit 60 schon zu betagt, um "den Rock des Kaisers" zu tragen, doch dem Silberschmied Schmidt blieb keine Wahl: Schon vorher hatten letztere Handwerksbetriebe schließen müssen, weil angesichts der Kriegsgefahr kein Silber mehr per Schiff auf die Insel befördert wurde. "Ultima Hora" schrieb: In wenigen Tagen wird unser Freund Herr Smit nach Deutschland abreisen, wo er sich in sein Grenadierbataillon eingliedern wird."

Die Folgen des Krieges und ihre Auswirkungen speziell auf Mallorca waren dem Blatt nahezu täglich eine eigene Spalte wert. Offizielle Verlautbarungen der Regierung, wie die strikte Einhaltung der Neutralität, wurden dort ebenso wiedergegeben wie die gestiegenen Preise für Lebensmittel.

Der Krieg jenseits der Grenzen ließ niemanden in Spanien kalt: Es gab beherzte Befürworter der Mittelmächte (Deutschland und Österreich), das waren der Adel, die Kirche, das Militär, die Industriellen und das Großbürgertum. Diesen "Germanofilos" (Freunden der Germanen) standen die "Aliadofilos" (die Anhänger der Alliierten) gegenüber. Das waren zumeist Bildungsbürger, Lehrer, Gewerkschafter, Arbeiter, Handwerker; all jene, die in den liberalen Verfassungen Englands und Frankreichs ein erstrebenswertes Vorbild für den eigenen Staat sahen.

Das Gebot der Neutralität bedeutete auch, dass Demonstrationen und Kundgebungen zugunsten oder gegen eine der kriegsführenden Parteien verboten waren. Dessen ungeachtet lieferten sich die Germano- und Aliadofilos massive Wortgefechte an Stammtischen und in Publikationen, die wiederum zum Teil von den Botschaften und Konsulaten der kriegsführenden Staaten mit Subventionen bezuschusst wurden. Der blutige Krieg in Europa wurde so zu einem Kampf um die Meinungsherrschaft in Spanien, selbst auf Mallorca.

Der Krieg tat der Wirtschaft der Insel gut, das muss man ihm lassen. Die Kriegsführenden benötigen Uniformen, Stiefel, Waffen, Lebensmittelkonserven. Das brachte auch Mallorca Aufträge ein und trieb die damals durchaus vorhandene Konsumgüterindustrie, die erst durch den Tourismus der 1960er Jahre den Todesstoß erhielt, zu ungeahnter Blüte. Der Wolldecken-Hersteller Ribas etwa beschäftigte in seiner Fabrik in Palmas Stadtteil Son Gotleu bis zu 500 Arbeiterinnen und exportierte in alle Welt.

Nach den Daten der Handelskammer wurden auf den Schiffswerften der Insel zwischen 1916 und 1919 exakt 21 Frachter produziert.

Der wirtschaftliche Boom lässt sich auch an einem anderen Detail ablesen: Als vor Verdun im Jahre 1916 Hunderttausende von Deutschen, Franzosen und Engländer in Kugelhagel und Stacheldraht starben (Ernst Jünger schrieb gar von "Stahlgewittern"), da wurde in Palma feierlich die elektrische Straßenbahn in Betrieb genommen.

Wirtschaftsunternehmer konnten in jenen Jahren einen goldenen Schnitt erzielen, weil ihre Waren selbst in minderer Qualität bei den kriegsführenden Nationen reißenden Absatz fanden. Es ist kein Geheimnis, dass sich der Weltkrieg geradezu wie ein Katalysator auf die Geschäfte eines Juan March auswirkte. Der Mallorquiner verkaufte an Mittelmächte und Alliierte, investierte geschickt die Gewinne und stieg nach dem Krieg zu einem der reichsten Männer seiner Zeit auf.

Das einfache Volk hatte das Nachsehen. Denn während der Export boomte und sich die Lebenshaltungskosten, insbesondere Lebensmittel, massiv verteuerten, stiegen die Löhne kaum an. Bereits im August 1914 hatte der Militärgouverneur der Insel die Bäckerzunft verpflichtet, den Brotpreis für "pan moreno" von 0,45 auf 0,4 Pesetas abzusenken, "weil es das Einzige ist, was sich die arbeitende Klasse leisten kann".

Für viele Menschen waren die Kriegsjahre auch in Spanien Jahre des Hungers, 1917 brachen im ganzen Land revolutionäre Unruhen aus, und die schlechte Versorgungslage der Bevölkerung trug dazu bei, dass die berüchtigte "Spanische Grippe" 1918 hier ihren Anfang nahm und schließlich weltweit 25 Millionen Opfer forderte.

Pragmatisch, wie die Mallorquiner veranlagt sind, konnten sie den Irrsinn des Krieges nur kopfschüttelnd verfolgen. Die US-Dichterin und Kunstsammlerin Gertrude Stein, die 1915/16 acht Monate in Palmas Villenviertel El Terreno lebte, schrieb später in ihrer Autobiographie:

Die Gefühle der Inselbewohner damals waren sehr gemischt, was den Krieg betraf. Was sie am meisten beeindruckte, war das viele Geld, das er kostete. Sie konnten stundenlang darüber sprechen, wieviel er kostete pro Jahr, pro Monat, pro Woche, pro Tag, pro Stunde, ja sogar pro Minute. Wir hörten sie an den Sommerabenden, fünf Millionen Pesetas, eine Million Pesetas, zwei Millionen Pesetas, gute Nacht, gute Nacht, und wussten, sie waren wieder einmal beschäftigt mit ihren endlosen Berechnungen der Kosten des Krieges.

Der Erste Weltkrieg hat, wenn man so will, in einem Fall bis heute Nachwirkungen auf Mallorca: Als bekannt wurde, dass ein deutsches U-Boot heimlich vor Cabrera mit Proviant versorgt wurde, enteignete das spanische Militär - im Sinne der auf Neutralität bedachten Regierung - am 16. Juli 1916 die Felsinsel vor Mallorcas Südküste. Der ursprüngliche Besitzer, Jacinto Feliu Blanes, und seine Nachkommen prozessierten von 1960 bis Mitte der 1970er Jahre gegen diese Maßnahme. Sie wollten die Insel zurückerhalten und dort Hotels für den Tourismus errichten. Der Staat blieb hart und erstattete das Eiland nicht zurück. Heute ist dort nicht mehr das Militär der Hausherr, sondern das spanische Umweltministerium und die Balearen-Regierung. So konnte das Eiland weitgehend so erhalten bleiben, wie es damals aussah, als es dem deutschen Reich als geheimer Anlaufpunkt für seine U-Boote gedient hatte.

Der Krieg ging für die Mittelmächte verloren, mochte jene deutsche Gouvernante, die bei Gertrude Steins Nachbarn in El Terreno lebte, noch so sehr nach jedem militärischen Erfolg die deutsche Flagge aus dem Haus hängen.

Das Ende des Konflikts ereilte auch die "Fangturm". Der "sehr große Dampfer", den auch Stein in ihrem Buch erwähnt hatte, dümpelte nach wie vor in der Bucht.

Die meisten Offiziere und Matrosen waren nach Barcelona entkommen, aber das Schiff blieb im Hafen. Es sah sehr rostig und verwahrlost aus und lag direkt vor unseren Fenstern. Ganz plötzlich, als der Angriff auf Verdun einsetzte, begannen sie die "Fangturm" anzustreichen. (...) Tag für Tag wurden die Nachrichten schlimmer, und eine ganze Seite der "Fangturm" war angestrichen, und dann hörten sie mit dem Anstreichen auf. Sie wussten es vor uns. Verdun würde nicht eingenommen werden. Verdun war sicher. Die Deutschen hatten die Hoffnung aufgegeben, es einzunehmen.

Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Versailles 1919 beschlagnahmte die spanische Marine die "Fangturm" und übergab sie als deutsche Reparationsleistung an den französischen Konsul.

Das Schiff trat seine Reise nach Marseille im Schlepptau an. Es war so verrottet, dass es nicht mehr aus eigener Kraft fahren konnte.

(aus MM 52/2013)