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Hochkonzentriert schaut Jesse gen Himmel, bevor er die Stange seines Vierbeins umfasst. Scheinbar mühelos zieht der 46-Jährige seinen Körper nach oben, mehrmals schwingt er um die Achse, bis die Pose erreicht ist: Jesse scheint parallel zum Boden zu schweben, nur seine Hände umfassen noch die Stange, jede Muskelfaser seine Körpers ist angespannt und er lächelt dennoch. Die "menschliche Flagge" heißt die Figur, sie ist eines der anspruchsvollsten Elemente der Akrobatik. Daher kommt auch sein Künstlername "Jesse, el hombre bandera". 2009 schafft es der Italiener ins Guinness Buch der Rekorde, er hielt die Position 42 Sekunden lang: "Das war eine Kampfansage an die Schwerkraft", sagt er.

Mehrere Zuschauer haben sich rund um das Trainingsgestänge des Italieners versammelt. Jesse hat gern Publikum, sein Trainingsraum ist die Straße. Er trainiert an der Promenade in Portitxol, wo er sein Akrobatikgerüst mehrmals pro Woche aufbaut. Bewohner von Algaida, wo der Sportler wohnt, kennen ihn auch als Barfußläufer. Seinen bürgerlichen Namen möchte Jesse nicht in der Zeitung lesen. Er verdient seinen Lebensunterhalt durch Shows, die er in Hotels in Cala Millor mit seiner Partnerin für die Touristen gibt. Dabei verbindet er Komik mit Akrobatik, Tanz und Kampfsporteinlagen. Höhepunkt ist dabei die "menschliche Flagge".

Mit 14 Jahren zum Ballett

Seit 2004 lebt der Italiener auf Mallorca, Sport gehört für ihn seit Kindesbeinen zum Alltag. Mit 14 Jahren begann Jesse mit Ballettunterricht. "Als Junge, der Ballett tanzt, hatte man es in meiner Heimat Sizilien nicht leicht", erzählt der 46-Jährige. Die gute Haltung hat der Showmann sich bis heute bewahrt, seine Ballettstange ist nun das Metallgeländer der Strandpromenade.

Später entdeckte er Breakdance für sich, der Tanz der Straße wurde Jesses Leidenschaft. Als Straßenkünstler lebte er in Mailand, Rom, Paris, arbeite später als Animateur in Hotels auf der ganzen Welt. Er erlernte die Kampftechnik Jeet Kune Do, die Bruce Lee entwickelt hatte: "An Bruce Lee faszinierte mich besonders sein philosophisches Denken von Yin und Yang." Jesse übte sich in Akrobatik in Italien und in Brasilien im Capoeira. "Ich habe mir fast alles selbst beigebracht." Mit einer Zirkusfamilie kam er nach Mallorca, wo er 1998 bereits einen Zwischenstopp als Animateur in Magaluf eingelegt hatte. Seit sieben Jahren verdient Jesse nun mit Personal Training und Hotelshows vor allem in Cala Millor seinen Lebensunterhalt.

"Das deutsche Publikum ist schwerer zu knacken als andere Nationen", erzählt Jesse. Während Italiener oder Spanier sich leicht animieren lassen, dauere es bei Deutschen länger, bis das Eis bricht. Doch wenn ihnen die Show zusagt, seien die Deutschen sehr aufmerksam und bedanken sich danach überschwänglich. "Das gefällt mir sehr."

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Jeden Tag vier bis fünf Stunden Training

Vier bis fünf Stunden täglich trainiert Jesse, nicht nur um fit für seine Shows zu sein: "Der Körper braucht jeden Tag eine Sporteinheit", sagt er. Den Morgen beginnt er mit einem kräftigen Frühstück, bestehend aus Brot mit Sardinen, Zitronensaft, viel Knoblauch und Echinacea-Tee. Danach folgt eine Stretchingeinheit. Am wichtigsten sei es, intensiv die Bauchmuskulatur zu stärken, denn diese braucht der Athlet für die menschliche Flagge besonders.

Niemand brauche ein Fitnessstudio zu Hause, es reiche, mit dem Gewicht des Körpers zu trainieren. "Auf der Straße sprechen mich die Leute an und sagen, ich würde auf diese oder jene Art trainieren, dabei habe ich das mein ganzes Leben so gemacht, ich bin da oldschool." Einzig eine Holzpuppe habe er in seinem heimischen Sportraum, um Techniken des Kampfsportes zu üben.

Während des Gesprächs steht der Italiener mehrmals auf, um Bestandteile aus seinem Trainingsrepertoire vorzuführen. "Manche Leute denken, ich sei hyperaktiv", erzählt er und lacht, "und in Algaida denken die Leute bestimmt, ich sei verrückt." Denn in seinem Wohnort ist Jesse als der Barfußläufer bekannt, der auch mal Kopfstand auf dem Dorfbrunnen macht. Seine Joggingrunden absolviert er ohne Schuhe, aber mit viel Hornhaut. "Barfußlaufen ist sehr gesund für den Bewegungsapparat, vor allem am Strand", rät er, 2000 begann er während eines Ägypten-Aufenthaltes mit dem Training ohne Schuhe. Bei seinen Lauftouren achtet er natürlich darauf, nicht in Glasscherben und andere spitze Gegenstände zu treten: "Ich bin ja kein Superman, das tut mir schon auch weh", lacht er.

Talent in Fernsehshow bewiesen

Mit seiner Partnerin gibt er Theaterworkshops in Santa Eugènia und Sencelles, zudem kann man ihn als Trainer für Pilates buchen. "Es macht mir einfach Spaß, Menschen voranzubringen". Jesse lebt eine positive Einstellung, er gibt sich naturverbunden und philosophisch. "Stärke kommt aus dem Kopf, nicht aus den Muskeln", ist sein Motto und dass man alles im Leben mit Leidenschaft tun müsse. Kraft und Leidenschaft will Jesse 2017 auch im Fernsehen unter Beweis stellen, dann plant er bei der spanischen Castingsendung "Got Talent" anzutreten, die Bewerbung hat er bereits abgeschickt.

(aus MM 18/2016)