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Wenn der sportliche 65-jährige Automuffel und Fahrradfan mit "Kira" im Arm auf seiner Terrasse hoch über dem Multikulti-Viertel Pere Garau steht, sieht er nicht aus wie der Nachkomme eines byzantinischen Hochadelsgeschlechts.

"Ich bin mit allen möglichen Adelsfamilien verwandt. Aber damit konnte ich nie etwas anfangen, ein-, zweimal war ich auf so einem Adelsball. Grausaum", sagt Michael Cantacuzene. Dass er Jugendlichen erklärt, wie sie der oder die Angebetete erhört oder auch ob der Penis zu groß oder zu klein oder einfach nur normal ist: das kann man sich bei dem Münchner schon eher vorstellen.

Tatsächlich war Cantacuzene 23 Jahre lang Mitglied des legendären Dr.- Sommer-Teams der Jugendzeitschrift "Bravo", die zu ihren besten Zeiten in den 70er Jahren eine Auflage von 1,8 Millionen Exemplaren hatte. Cantacuzene stieß Mitte der 80er zum Team.

Er hatte gerade sein Sport- und Psychologie-Studium beendet, hielt sich aber noch und vor allem gerne im Englischen Garten der bayerischen Landeshauptstadt auf, etwa um Tennis am Eisbach zu spielen. Als zunehmend mehr Spielpartner Berufe ergriffen und somit von der Bildfläche verschwanden, fing auch der damals 30-Jährige an, Stellenanzeigen zu studieren.

In der Süddeutschen Zeitung fand er schließlich ein Gesuch für die Dr.-Sommer-Redaktion der Bravo. "Ich wusste, das war genau mein Job", erinnert er sich. Neue Menschen kennenzulernen, sich in sie hineinzuversetzen, das hat ihn schon seit Kindheit fasziniert.

Cantacuzene hatte neben seinem abgeschlossenen Psychologiestudium auch Erfahrungen als Skilehrer. Damit traf er beim damaligen Chefredakteur der Bravo, einem ehemaligen Sportjournalisten, genau ins Schwarze.

Und es wurde für ihn der ersehnte Traumjob, bei dem er berufsbegleitend sogar eine dreijährige Psychotherapie-Ausbildung absolvieren konnte. Fragen wie "Wie geht küssen" beschäftigten ihn von nun an, oder Anrufe wie von der 13-jährigen Sabine, dass ihr Busen zu klein sei. Oder auch, wie man den Traumboy an der Bushaltestelle ansprechen kann, da hat Michael Cantacuzene alias Dr. Sommer weitergeholfen und mit der Anruferin Strategien entwickelt.

"Ihr Vertrauen hat mich total happy gemacht", sagt er. Die Figur Dr. Sommer verlieh ihm eine natürliche Autorität und gleichzeitig auch die nötige Anonymität. Das Kuriose war, dass der Dr. Sommer sogar im persönlichen Kontakt funktionierte. Ob auf Deutschland-Tour mit dem Dr.-Sommer-Mobil oder bei Besuchen von Jugendfreizeiten, wo ein Besuch des "echten Dr. Sommer" ein Programmhighlight war. Dort scheute sich der Diplom-Psychologe auch nicht, an einer Schaumparty teilzunehmen oder auf die Bühne zu gehen.

Er hatte aber auch mit ernsten und existenzbedrohenden Fragen zu tun, bei denen er mit den Betroffenen Strategien entwickeln musste. "Vater Alkoholiker, sexueller Missbrauch, massive Ängste, Depression oder suizidale Impulse, das gehörte ganz genauso zu meiner täglichen Arbeit", erzählt er.

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Das Vertrauen seiner eigenen drei Kinder zu erlangen fiel ihm deutlich schwerer, als bei ihm völlig fremden Jugendlichen. "Mit denen habe ich nie über Aufklärung oder sexuelle Probleme gesprochen", sagt er und wundert sich bis heute darüber. "Ich war denen eher peinlich."

In 23 Jahren hat sich viel getan und entgegen gängigen Meinungen hält der Diplom-Psychologe heute auch einiges für besser als früher, zum Beispiel was den Evergreen erster Sex betrifft. "Als ich anfing (Mitte der 80er Jahre, d.Red) war das erste Mal lästig, man wollte es schnell hinter sich bringen. Das führte zu Stress und Verkrampfungen", sagt er. Heute nehme man sich mehr Zeit und ist bereit, auf den oder die Richtige zu warten. Da seien Jugendliche souveräner geworden "Das ist doch eine tolle Entwicklung."

Auch sei es längst nicht mehr so, dass die Jungs die treibende Kraft beim "ersten Mal sind" - im Gegenteil. "Die Jungs legen heute oftmals mehr Wert auf ihre Kumpels", glaubt Cantacuzene. Dahinter steckt seiner Meinung nach ein Phänomen, das er beobachtet hat, das vor allem jungen Männern zu schaffen mache: die leichte Verfügbarkeit und der Konsum von Pornos. "Da kann der gut gebaute Mann immer und kennt sich bestens mit allen Stellungen aus", sagt er. Das sei für viele Jungen eine Hemmschwelle beim ersten Mal.

Bei einem Thema sieht der Psychologe die Bravo in einer echten Vorreiterrolle: Der Enttabuisierung der Selbstbefriedigung. "Was es nicht alles für Theorien gab, dass Onanieren zu Muskelschwund führt zum Beispiel", erinnert er sich. Der Bravo-Redaktion sei es vor allem darum gegangen zu zeigen, wie man die Lust auf Sex und den Körper steigern kann und wie es am meisten Spaß macht.

"Wir haben lustvollen Sex propagiert", sagt Cantacuzene, der als Jugendlicher eine Klosterschule besucht hat. Die Betonung des Lustvollen war vor allem Eltern und Lehrern ein Dorn im Auge, aber er ist davon bis heute überzeugt. "Die Aufklärung in der Bravo war wirklich gut", sagt er. Deswegen lag sie bei ihm zu Hause auch immer aus - und deshalb brauchten ihn vielleicht auch seine Kinder nicht als kompetenten Aufklärer. Der Dr. Sommer war er vor allem für alle anderen.

Heute ist es das Internet, in dem sich Jugendliche informieren können, auch die Bravo macht da notgedrungen mit. "Wir haben 2002 angefangen, Dr.-Sommer-Antworten zu allen Themenbereichen ins Internet zu stellen. Da habe ich schon damals gesagt, das ist der Tod." So weit ist es noch nicht, aber die Auflage ist dramatisch gesunken, liegt aktuell bei knapp über 100.000.

Für eines der langjährigen Mitglieder der Dr.-Sommer-Redaktion ist das Vergangenheit. Cantacuzene hatte noch eine Zeit lang eine Praxis in München, jetzt pendelt er zwischen München und Mallorca. Seine Kinder kommen ihn in seiner Wahlheimat Palma häufiger besuchen, in München wohnt er mit seinem Sohn zusammen, in einem Mehrfamilienhaus, das auch seine Exfrau mit einer Tochter und die älteste Tochter mit ihrem Mann bewohnen.

"Hier in Palma bin ich eigentlich ganz gerne allein, ich lerne wahnsinnig gerne Menschen kennen", sagt Cantacuzene. Das hat er auch auf seinen Reisen durch Südamerika, Indien oder Thailand immer so gemacht. "Ich bin schon als 13-Jähriger getrampt, sehr zum Leidwesen meiner Mutter. Die hatte es wirklich nicht leicht", gibt er zu. Zahlreiche Mitbringsel in seiner bunten Wohnung erinnern an seine Reisefreudigkeit. Nach einem Winterbesuch bei einem Freund in Sóller verliebte er sich in die Insel und fand eine Wohnung im Multikultiviertel Pere Garau.

"Das ist hier viel authentischer als Calatrava oder Santa Catalina", sagt er. Zur Ruhe setzen will er sich allerdings nicht. Er hat vor, in Palma eine psychotherapeutische Praxis zu eröffnen, wenn sein Spanisch gut genug ist. Über Unterstützung bei seinem Vorhaben würde er sich freuen. "Als Gegenleistung kann ich Bayrisch, Englisch, Tischtennis und offensives diagonales Radfahren anbieten", sagt er. Und wie man lebensgroße Holzpiratinnen auf dem Fahrrad balanciert. Dafür hat ihm der beeindruckte Händler auf seine "Kira" einen Rabatt gegeben.

(aus MM 2/2018)