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Plötzlich steht da ein Turm. Halb verfallen ragt er aus dem Dickicht. Der Boden ist übersät mit zerbrochenen Dachpfannen, durch ein Loch im Gebälk wirft die Sonne einen Strahl in das staubige Halbdunkel. Die Gerätschaften, deren Zweck längst nicht mehr zu erkennen ist, zerbröselt nach und nach der Rost. In der Ferne rauschen derweil an diesem Sonntagmittag die Autos vorüber, Richtung Alcúdia, Richtung Meer, Richtung Strand. Die Ruinen der einstigen Bergarbeitersiedlung Son Fé lassen die Ausflügler rechts liegen.

„Es gibt auf dieser Insel viele Dinge, die in Vergessenheit geraten sind”, sagt Pep Ramis. In einer Garage in Palmas Stadtteil Son Gotleu hat der Fotograf sein Büro eingerichtet. Seit Jahren widmet er sich der Erforschung und Dokumentation der Kolonien, Weiler und Siedlungen der Insel. 83 hat er mittlerweile ausfindig gemacht, sein Buch zum Thema soll demnächst aktualisiert in zweiter Auflage erscheinen. „In diesen kleinen Ortschaften kann man am besten sehen, wie Mallorca früher war”, sagt Ramis.

In Son Fé, gleich neben der Landstraße Sa Pobla-Alcúdia gelegen, ist auf den ersten Blick zugegebenermaßen nicht mehr viel zu sehen. Wer dem dicht bewachsenen Feldweg folgt, gelangt nach ein paar Dutzend Metern zunächst an ein verfallenes Gebäude mit zugemauerten Fenstern, das fast vollständig von Brombeersträuchern überwuchert ist. Direkt daneben befindet sich ein mit Metallstreben verschlossener Schacht.

In bis zu 80 Meter Tiefe wurde hier seit dem späten 19. Jahrhundert Braunkohle abgebaut. So steht es in der Großen Enzyklopädie Mallorcas. Später kam dann eine Zementfabrik hinzu. Deren Ruine ist bis heute am besten erhalten. Rund um die Industrieanlage siedelten sich im Laufe der Jahre die Arbeiter an. Es entstand eine kleine Ortschaft, mit eigener Kirche und daran angeschlossener Schule. Das imposante Gebäude wird heute von Augustinerinnen als spirituelles Zentrum betrieben.

Nur ein paar Hundert Meter weiter glitzert ein Teich in ganz unwahrscheinlichen Farben. Die Bassa de Son Fé ist eine ehemalige Kiesgrube, die im Laufe der Jahre mit Wasser volllief und heute als ökologisch wertvolles Feuchtgebiet gilt. Nachdem die Kohlemine 1975 stillgelegt worden war, zogen auch die letzten Arbeiter aus der einst blühenden Siedlung fort und überließen sie dem Verfall und dem Vergessen.

Ganz anders verlief die Geschichte in anderen Weilern der Insel. Besonders rund um Palma gab es einst eine große Zahl solcher Ortschaften, die sich ursprünglich in der Nähe der Landsitze reicher Bewohner der Inselhauptstadt gebildet hatten. Gènova, La Vileta, Son Sardina, Establiments, S’Indioteria – all dies waren einst kleine Siedlungen außerhalb Palmas, die im Laufe der Jahre immer weiter wuchsen, eingemeindet wurden und heute bedeutende Stadtteile sind.

„Der Ursprung dieser Weiler ist in den meisten Fällen der gleiche”, sagt Heimatforscher Pep Ramis. Letztendlich geht ihre Geschichte auf die Rückeroberung Mallorcas von den Moslems im 13. Jahrhundert zurück. Nach der Aufteilung der Insel unter den besonders treuen Gefolgsleuten des aragonesischen Königs bildeten sich die historischen Landgüter, die Possessions. Deren adlige Besitzer legten den Grundstein der Ortschaften, indem sie ihren Landarbeitern gestatteten, sich an einem bestimmten Ort niederzulassen – mal mehr, mal weniger weit vom Haupthaus entfernt.

„Meist handelte es sich um den am wenigsten fruchtbaren Boden”, sagt Ramis. Als Gegenleistung für den Dienst auf den herrschaftlichen Ländereien durfte das Gesinde die zur Verfügung gestellten Äcker bewirtschaften. Einige dieser Siedlungen entwickelten sich im Laufe der Jahrhunderte durchaus erfolgreich – und sind heute eigenständige Gemeinden. Costitx etwa geht auf einen solchen, sogenannten Llogaret zurück, ebenfalls Ariany und Fornalutx. Andere Orte haben es zwar nicht zur Eigenständigkeit gebracht, wohl aber eine eigene Identität entwickelt, wie etwa S’Arracó, das zu Andratx gehört, Galilea, das formal ein Teil von Puigpunyent ist, oder Es Capdellà (Calvià).

„Einen Llogaret macht aus, dass dort soziales Leben stattfand”, sagt Ramis. Zumindest eine Schule und eine Kirche, beziehungsweise einen Gebetsraum gab es stets. Das unterscheide diese Weiler etwa von Ortschaften wie dem Fischerort S’Estaca an der Küste von Valldemossa. In der kleinen Siedlung lebten die Fischer nur wochentags, sagt Ramis. An den Wochenenden kehrten sie zu ihren Familien zurück. In vielen der Ortschaften entstanden Schulen erst während der Zweiten Republik in den Jahren vor dem Spanischen Bürgerkrieg. So etwa im Llogaret Tirasset bei Inca, wo Ramis selbst einen Teil seiner Jugend verbrachte.

Auch Ruberts, das zu Sencelles gehört, ist einer dieser typischen Weiler, deren agrarischer Ursprung bis heute spürbar ist. Eng schlängelt sich die Dorfstraße zwischen Mauern hindurch, hinter denen Schweine grunzen und Hühner gackern. Der Ort gefällt offenbar auch vielen Urlaubern – so sehr, dass der Gemeinderat nun den kleinen Kirchplatz zu einer Sonderparkzone erklärt hat. Nur noch die rund 50 Einwohner der Ortschaft dürfen hier jetzt ihr Auto abstellen, nachdem es zuletzt angesichts der vielen Mietwagen schier unmöglich war, einen freien Platz zu finden.

Ähnlich war die Lage lange Zeit in Biniaraix, einem malerischen Llogaret unweit von Sóller. Vor allem an den Wochenenden herrschte hier ein solches Gedränge, dass der Gemeinderat ebenfalls ein Parkverbot für Auswärtige beschloss. Wie groß das touristische Interesse am „ursprünglichen Mallorca” ist, kann man auch in dem herausgeputzten Weiler Binibona erleben, der zu Selva gehört: In drei der rund 20 Häuser sind mittlerweile Landhotels untergebracht.

(aus MM 25/2019)