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Erst wenn sich die Dunkelheit über die Wohnung im spanischen Santander legt und die beiden einjährigen Zwillingsmädchen endlich im Bett zur Ruhe gekommen sind, finden Noelia Madrazo und ihr Mann Simon Zeit füreinander. Dann fährt Noelia den Computer hoch, schaltet Skype ein, und schon erscheint der blonde Kopf ihres Partners auf dem Bildschirm. Simon McGoldrick sitzt in einem Dorf in der Nähe von Bergamo, der Stadt Hunderte Kilometer weiter westlich in Italien, die derzeit überall in den Nachrichten als eines der Epizentren der Corona-Pandemie auftaucht.

Und auch wenn Noelia und Simon noch gesund sind, der Virus hat auch ihr Leben auf den Kopf gestellt. Er Schiffsingenieur, sie Lehrerin, und normalerweise ist Palma ihr gemeinsamer Hafen. Beruflich bedingt lebt die Familie seit letztem Jahr in Italien. Als sich die Ausgangssperren dort andeuteten, floh Noelia mit den drei kleinen Kindern – der älteste Sohn Max wohnt aktuell bei Noelias Schwester – nach Santander zu ihren Eltern. Sie ging davon aus, dass sich in kurzer Zeit alles legen würde.

„Ich bereue jetzt, vor einem Monat hierhergekommen zu sein“, sagt Noelia. Ehemann Simon darf jetzt nicht nach Santander reisen, da er dort nicht gemeldet ist. Somit haben sich Simon und Noelia seit Wochen nicht persönlich gesehen, und es bleibt unklar, wann sich die Lage wieder ändert. „Es ist absolut zum Verzweifeln, da wir nicht wissen, wie lange es so weitergehen wird,“ sagt Noelia. „Natürlich vermisse ich ihn und gerade zurzeit braucht man körperlichen Kontakt, eine Umarmung.’’

Hier waren alle noch vereint: Ein Besuch bei den Großeltern in Australien im Winter 2019.

Die Corona-Krise hat innerhalb nur weniger Wochen das soziale, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben zum Stillstand gebracht. Flugzeuge am Boden, Geschäfte geschlossen, die Leute harren zu Hause aus und hoffen darauf, sich nicht zu infizieren und bald wieder Normalität zu spüren. So sitzen sie da, die einen getrennt von ihren Liebsten, die anderen beengt auf zu wenig Raum und ohne Möglichkeit, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen.

In Spanien hat man das öffentliche Leben vollständig eingefroren, auf den Bürgersteigen weicht man sich beim erlaubten Gang zum Supermarkt aus. Für Spanier mit südländischem Freiheitsdrang und gewohntem Körperkontakt eine harte Probe. Beim Unterhalten berühren sie ihr Gegenüber gerne spontan an der Hand oder am Arm, um das Erzählte zu unterstreichen. Auch kommen sie sich beim Reden viel näher als Deutsche, deren Wohlfühlzone eher bei einer Armlänge Abstand liegt. Die jetzt verordneten zwei Meter, zumindest in der Öffentlichkeit, widerstreben in Spanien dem kollektiven Körpergefühl einer Nation.

Die Angst sitzt in den Köpfen

Auch wenn Paare zusammen sein dürfen, die Angst vor dem Virus hat sich in die Köpfe der Menschen hineingefressen. „Meine Frau und ich tauschen kaum noch Zärtlichkeiten aus“, gesteht ein Busfahrer in Palma einem Bekannten am Telefon, während er im leeren Bus auf seinem Fahrersitz neben rot-weiß-gestreiftem Klebeband als Absperrung Platz nimmt.

Die Sorge des Busfahrers mag wenig rational sein, denn wer gemeinsam in einem Haushalt lebt, hat die Kette der Sterilität sowieso durchbrochen – ein gemeinsames Abendessen an einem Tisch kann schon ausreichen, um sich anzustecken. Dennoch zeigt sie die aktuelle Unsicherheit vieler Menschen.

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Gemma Mestre ist Klinische Psychologin mit Spezialisierung auf Paartherapie und Sexualität und eigener Praxis in Palmas Altstadt. Aktuell berät sie ihre Klienten nur online. Zum Thema „Nähe und Distanz“ und wie Paare dies in Zeiten von Corona leben, sagt sie: „Wenn von außen so stark propagiert wird, auf Abstand zu gehen, steigt der Wunsch nach körperlicher Nähe.“ Eine ihrer Klientinnen zum Beispiel erzählt, dass sie stärker als je zuvor den Wunsch nach Sexualität mit dem Partner verspüre. Das berufliche Umfeld dieser Frau spielt dabei eine Rolle. Sie ist Krankenschwester und muss zurzeit besonderen Druck und Stress aushalten. „Leben und Tod liegen dann oft sehr nah beieinander“, sagt Mestre. Wer dem Tod direkt begegnet, möchte das Leben erst recht spüren.

Zuviel Nähe kann auch belasten

Die Distanz, die Noelia und Simon gerade erleben, zerrt an den Nerven. Aber auch das andere Extrem kann eine Beziehung beeinträchtigen. Paare, bei denen beide einen aktiven beruflichen Alltag haben und sich nur morgens oder abends sehen, teilen sich nun 24 Stunden am Tag Tisch und Bett. Die gewohnten Rückzugsmöglichkeiten entfallen.

„In so einem Fall ist es wichtig, sowohl den eigenen Raum zu respektieren als auch Zeit als Paar bewusst zu leben“, sagt die Psychologin. Alle seien angespannt, viele sorgten sich um ihren Beruf und die Zukunft. Körperlicher Kontakt sei gerade dann besonders wichtig.

Und was tun die, die in getrennten Wohnungen leben, deren Beziehung als locker bezeichnet werden kann? Eine Befragte meint dazu, dass sie in der vielen Zeit alleine während der Ausgangssperre vermehrt gedacht habe, dass jetzt ein guter Zeitpunkt sei, die unverbindliche Liaison zu beenden. Zu unausgewogen sei diese. „Aber“, fügt sie hinzu, „ich sah dann doch davon ab, weil es einen mentalen Stressfaktor zusätzlich bedeutet, den ich zurzeit nicht gebrauchen kann.“ Auch wenn es nicht die große Liebe sei, ein paar aufmunternde Worte am Telefon oder das ein oder andere nette Bild würden während der Zeit der Ausgangssperre guttun.

Manche behelfen sich vermehrt mit Online-Dating, um der Einsamkeit zu entkommen. „Das Onlinedating-Portal Tinder verzeichnet steigende Zahlen“, so Natalja Neumeister von der zuständigen Pressestelle für den europäischen Raum. Die Anzahl täglicher Nachrichten sei in der letzten Woche um bis zu 25 Prozent gestiegen. „Die Leute chatten aber nicht nur mehr miteinander, sondern auch länger.“

In ein paar Wochen wird die strenge Kontaktsperre hoffentlich vorbei sein. Doch was geschieht danach? „Das hängt sicherlich von den einzelnen Kulturen ab“, ist Mestre überzeugt. Spanier lieben den Körperkontakt. Ein Küsschen zur Begrüßung muss sein, alles andere wirkt unterkühlt. Die aktuell verordnete Distanz müsse erst wieder aus den Köpfen verschwinden.

Simon und Noelia legen aktuell alle ihre Hoffnung auf den 1. Mai. Das ist der erste Termin, an dem ein Flugzeug von Santander nach Bergamo abheben darf. Der Plan der Familie ist es jetzt, sobald wie möglich wieder in Italien vereint zu sein.