Bergmann, Handwerker, Koch und „der Koloniekater in Artà” – so beschreibt sich Pierre Lorenz in eigenen Worten. Der Mann aus Bottrop hat auf Mallorca sein Glück gefunden. | Miriam Eisold

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Auf der Plaça de l’Aigua, dem alten Wasserplatz von Artà im Nordosten Mallorcas, sitzt ein gutgelaunter Mann Anfang 50 und grüßt beinahe jeden Autofahrer und jeden Fußgänger, der an dem Restaurant in der Mitte eines Verkehrskreisels vorbeikommt. Es ist Pierre Lorenz aus Bottrop. „Ich bin hier sowas wie der Koloniekater, in Artà kennt mich fast jeder“, sagt er lachend, bevor er die Hand erneut zum Gruß hebt. Lorenz baut Häuser um und ist im Ort irgendwie omnipräsent.

Die Lippen, die heute „Hola“ und „Hallo“ in alle Himmelsrichtungen schicken, die formten bis vor 30 Jahren einen anderen Gruß, nämlich: „Glück auf, Kumpel“. Der 52-Jährige ist Bergmann. Im Kohlenpott geboren, war das für ihn, als er mit 16 die Schule beendet hatte, eine naheliegende Entscheidung – zumal sein Urgroßvater, sein Großvater, sein Vater, seine Onkel und Cousins bereits Bergmänner waren, selbst Lorenz’ Vermieter war ein Kumpel.

„Mein Vater hat immer gesagt: ‚Werd’ bloß kein Bergmann’“, erzählt er, aber die Aussicht auf ein gutes Gehalt – und das bereits in der Lehre – war zu verlockend. Entgegen dem Rat seines Vaters begann Pierre Lorenz eine Ausbildung zum Industriemechaniker beim Bergwerk Prosper-Haniel in Bottrop. „6 Uhr Seilfahrt“ hieß es für ihn ab dann. Das bedeutet: Um 6 Uhr sauste der Stahlkäfig mit 30 bis 50 Kumpeln 1000 Meter in die Tiefe. „Aber vorher gab es ein Frikadellenbrötchen mit Soße in der Kantine, die hat schon um vier aufgemacht“, erinnert sich Lorenz schmunzelnd.

Nach der frühen Stärkung ging es in den Stollen, zum Abbau von Steinkohle, die erst zu Koks und dann zu Stahl verarbeitet wurde. „Die Arbeit unter Tage ist wirklich hart. Dreck, Wasser, Wind (der durch die „Bewetterung”, also Frischluftzufuhr entsteht), Staub – dazu der ohrenbetäubende Lärm der tonnenschweren Maschinen, das bei Temperaturen zwischen 30 und 40 Grad. Das muss man schon wollen“, sagt Lorenz. Er wollte es – fünfeinhalb Jahre, dann legte er den Abbauhammer, mit dem er die Kohle aus dem „Flöz” geschlagen hatte, zur Seite, um für ein Jahr zur Bundeswehr zu gehen.

„Der Dreck war mein größtes Problem, ich war schon immer ein bisschen etepetete“, sagt Lorenz, der in seiner Zeit als aktiver Bergmann stets ein weißes Halstuch trug. „Bergmänner sind einfach immer schmutzig. So sehr, dass sich die Kumpel gegenseitig den Rücken sauber schrubben. An manchen Stellen hängt unter Tage ein richtiger Vorhang aus Dreck. So dicht und dunkel, dass man einen Menschen, der dahinter steht, nicht sieht“, erinnert sich Pierre Lorenz.

Pierre Lorenz (rechts) an seinem letzten Arbeitstag mit einem Kumpel. Das weiße Halstuch war sein Markenzeichen.
Pierre Lorenz (rechts) an seinem letzten Arbeitstag mit einem
Kumpel. Das weiße Halstuch war sein Markenzeichen. Foto: privat

Zurück von der Bundeswehr machte er eine zweite Ausbildung – diesmal zum Karosseriebauer. Er reparierte alte Autos und Motorräder – und machte sich wieder schmutzig. Nach Feierabend besuchte er oft seinen Freund Balbiasingh, einen Inder, der Koch in einem italienischen Lokal in Bottrop war. „Für diesen war es unbegreiflich, warum sich ein deutscher Mann mit einer abgeschlossenen Ausbildung im wahrsten Sinne des Wortes ‚die Hände schmutzig macht’“, sagt Lorenz. Als dann in der Nähe ein Restaurant zum Verkauf stand, beschlossen die Freunde gemeinsam, das „Bella Italia“ zu eröffnen und schufen mit mehr Glück als Verstand eine wahre Goldgrube.

Pierre Lorenz war fort-an Gastronom und erfüllte sich wenige Jahre später einen Traum: Er baute eigenhändig eine alte Windmühle am Niederrhein, inmitten einer 10.000 Quadratmeter großen Obstwiese, zu einem zweistöckigen Restaurant mit Dachterrasse aus. Die dazu nötigen Fähigkeiten hatte er ja in seiner Zeit als Bergmann erworben.

„Ein Bergmann kann alles“, sagt Lorenz lachend. Die Ausbildung zum Industriemechaniker sei sehr umfangreich gewesen, handwerkliches Geschick war ihm bereits in die Wiege gelegt. Er verwandelte die Windmühle in ein Schmuckstück mit hervorragender Küche. Das Geschäft lief gut, ein Event jagte den nächsten, solange, bis Pierre Lorenz eines Nachts nach Feierabend in seiner Wohnung zusammenbrach. Nur durch einen Zufall entdeckte ihn seine damalige Freundin rechtzeitig und brachte ihn ins Krankenhaus. „Dass es so weit kam, das war eine Verkettung verschiedener Umstände: Ich hatte eine unentdeckte Schilddrüsenerkrankung, wenig Schlaf, Stress, Alkohol … am Ende lag ich fast vier Wochen auf der Intensivstation“, sagt Lorenz nachdenklich und fügt hinzu: „Es hätte nicht viel gefehlt und ich würde hier heute nicht sitzen und halb Artà kennen.“

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Wie das Schicksal so spielt, war es genau dieser Zusammenbruch und die dadurch bedingte Auszeit, die Pierre Lorenz nach Mallorca brachte. „Da kam ein Typ zu mir ans Krankenbett und fragte mich, ob ich nicht seine Finca bei San Lorenzo umbauen kann. Er hätte Probleme mit dem Bauunternehmer und gehört, dass ich gut umbauen könne. Ich mein’: Hallo? Ich kannte den Mann gar nicht und war gerade dem Tod von der Schippe gesprungen … Ich habe gesagt, ,Ich mach das auf keinen Fall’“, erinnert sich Pierre Lorenz.

Aber der Fincabesitzer blieb hartnäckig und Lorenz übernahm den Job 2007 dann doch. Unter der Sonne Mallorcas ging es ihm bald besser: Er blieb zunächst auf der Insel, vollendete den Umbau der Finca und setzte sich mehr und mehr mit Sonnenenergie auseinander. „Ich dachte mir: Erst hab’ ich Geld mit Kohle verdient, jetzt will ich Kohle mit der Sonne machen“, erzählt Lorenz grinsend. Und so baute er bald weltweit Solaranlagen und entwickelte gemeinsam mit dem ehemaligen Atomphysiker Günther Kunz einzigartige Solarmodule.

„Unsere Module können extrem viel Wärme erzeugen und speichern“, erklärt Lorenz. Auf dem Markt sind die Tüftler mit ihrer Erfindung zwar nicht präsent, aber unter Experten haben sie für ihre Patente viel Anerkennung gefunden.

Und noch eine weitere Leidenschaft hat Pierre Lorenz der seit 2018 wieder fest auf Mallorca lebt, für sich entdeckt: Die Stahlkunst. „Als Bergmann kenne ich mich mit Stahl natürlich aus“, erklärt Lorenz. Seine Kunst ist heute unter anderem in Restaurants in Artà zu sehen, und eine von ihm gefertigte Stahl-Agave steht zum Kauf in Lorenz’ eigener Galerie „GT10“ – direkt an der Plaça de l’Aigua.

Die Galerie betreibt er gemeinsam mit dem Künstler Ingo Linz. Die beiden Freunde und weitere deutsche und mallorquinischen Künstler stellen seit kurzem dort aus und bereichern so den Markt im Künstlerdorf Artà. Und weil ein Bergmann alles kann, widmet sich Pierre Lorenz darüber hinaus der Bausanierung, dem Innenausbau und der Planung verschiedener Objekte.

„Wäre ich Bergmann geblieben, dann wäre ich jetzt im Vorruhestand. Das Bergwerk Prosper- Haniel in Bottrop wurde 2018 als letztes Steinkohlebergwerk in Deutschland geschlossen“, sagt Lorenz.

Aber im Herzen, da bleibt er wohl immer der Bergmann mit dem weißen Halstuch, und wenn ihn seine Freunde nach einem Termin zum Kaffeetrinken fragen, lautet die Antwort meist schlicht: „Seilfahrt 16 Uhr.“

(aus MM 29/2020)