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Die Frage traf Birgit Schad wie ein Blitz aus heiterem Himmel. „Hast du eigentlich jemals deinen Vater kennengelernt?” Gestellt hatte sie ihre Cousine Monika Thomas, die 16 Jahre älter ist als die 52-jährige Schad.

Es ist Spätsommer 2020, mitten im Corona-Jahr, und hinter Birgit Schad liegen aufreibende Wochen. Vor kurzem war die Mutter der Osnabrückerin gestorben. Die Tochter hatte die alleinstehende Frau noch im Altenheim gepflegt. Kurz vor deren Tod erfuhr Schad, dass sie eine Cousine hat. Ein völliges Novum für die Frau. Fakt ist, dass ihre Mutter seit Jahrzehnten mit der eigenen Schwester zerstritten gewesen war, offenbar infolge einer Erbangelegenheit. Es hatte seitdem keinerlei Kontakte mehr gegeben.

Im Rahmen der Trauerfeier lernen sich Birgit Schad und Monika Thomas kennen. Bald darauf kommt es zu einem Treffen, bei dem die beiden Frauen versuchen, das Dunkel der eigenen Familiengeschichte nach und nach zu durchleuchten.

„Hast du eigentlich jemals deinen Vater kennengelernt?” Bis dahin war Birgit Schad ein halbes Jahrhundert davon ausgegangen, dass es sich bei ihrem Vater um Benno Schapp handelte. Der Monteur bei der Bundesbahn war mit ihrer Mutter verheiratet und kam 1978 bei einem Arbeitsunfall ums Leben, als die Tochter zehn Jahre alt war. Erinnerungen an den Mann hat Schad kaum. Er verließ das Haus in der Regel am frühen Morgen, als sie noch schlief, und kam abends erst heim, als sie schon wieder im Bett sein und schlafen musste. Gemeinsame Mahlzeiten gab es, wenn überhaupt, nur sonntags. Doch an diesen Tagen saß Benno Schapp, ein Mann mit Alkoholproblem, in der Kneipe, wo ihn das Kind das eine oder andere Mal herausholen sollte. „Es gab keine Vater-Kind-Beziehung, wie man sich das so vorstellt”, konstatiert Schad im Rückblick.

Doch dieser Benno Schapp konnte nach den Worten der Cousine gar nicht Birgit Schads Vater sein. Monika Thomas war 16, als sie ihre Tante und die neugeborene Birgit besuchte, damals im Sommer 1968, als noch familiärer Kontakt bestand. Und Monika Thomas erinnert sich genau, dass ihre Tante Hildegard und Benno Schapp zu jenem Zeitpunkt längst kein Paar mehr gewesen waren. Mehr noch, die Cousine hat damals einen weiteren, ganz besonderen Besucher angetroffen. Es handelte sich um einen Mann, wenige Jahre jünger als ihre Tante. Er war eigens aus Köln angereist, um das Baby zu sehen. Das Auffällige an dem Besucher: Er trug vom Knie an abwärts eine Beinprothese. War es das rechte oder das linke Bein? Mehr als ein halbes Jahrhundert später kann sich Monika Thomas auf dieses Detail nicht mehr exakt festlegen. Doch die Cousine ist sicher: Dieser geheimnisvolle Kölner war der Vater des Kindes.

„Ich war überrascht, aber nicht wirklich geschockt”, erinnert sich Birgit Schad an jenen Moment, als sie von der Existenz dieses Mannes erfuhr. Und dann geriet die 52-Jährige doch ins Grübeln. War ihr manches an ihrer Biografie nicht immer schon irgendwie rätselhaft vorgekommen? Wieder steigt in ihrer Erinnerung jener unglaubliche Traum auf, der sie aus dem Schlaf gerissen hatte, als sie 20 war. „Ist dein Vater noch am Leben?”, hatte sie sich darin selbst gefragt. Und warum war die Mutter stets ausgewichen, wenn die Tochter das Gespräch auf ihren Vater bringen wollte? Nicht einmal die beste Freundin ihrer Mutter konnte Schad nach der Trauerfeier letztlich weiterhelfen. Auf die Frage, wer ihr biologischer Vater sei, antwortete diese eindringlich: „Birgit – das weiß ich nicht!”

Schad nimmt sich die Papiere ihrer verstorbenen Mutter vor. Und erfährt Dinge, die sie bis dato nicht wusste. So hatte sich ihre Mutter bereits 1965 von Benno Schapp scheiden lassen, drei Jahre, bevor die Tochter zur Welt kam. Geheiratet hatte das Paar zehn Jahre zuvor, im Februar 1955. Nur wenige Monate später wurde ein Mädchen geboren, das bald darauf starb. „Er konnte keine gesunden Kinder zeugen”, erfuhr Birgit Schad letztlich von ihrer Cousine über Benno Schapp.

Auf der Suche nach Antworten stößt Schad auf ihre erste Geburtsurkunde. Zu ihrer Überraschung sieht sie, dass ihr Nachname in dem Dokument damals auf den Mädchennamen ihrer Mutter – „Knauft” – ausgestellt worden war. Erst mehr als ein Jahr später gab es eine neue Geburtsurkunde, diesmal umgeschrieben auf den Nachnamen Schapp. Die Mutter hatte sich offenkundig mit dem Ex-Mann arrangiert. Es wurde ohne jegliches Aufsehen – und noch dazu in einer fremden Stadt – ein zweites Mal geheiratet. Benno Schapp wurde dadurch nachträglich zum Vater der Einjährigen. „Das Kind ist durch die Vermählung ehelich geworden”, las Birgit Schad in einem alten Behördeneintrag.

Die 52-Jährige forschte weiter, errechnete den Zeitpunkt ihrer Zeugung: Ende September beziehungsweise Anfang Oktober 1967. Was hatte ihre Mutter in jener Zeit unternommen? Darauf gibt es eine eindeutige Antwort – und hier kommt Mallorca ins Spiel: „Meine Mutter verbrachte damals einen Urlaub im Hotel Cala Bona, von dem sie ein Leben lang geschwärmt hat.”

Hildegard Knauft, Jahrgang 1932, war eine moderne, selbstbewusste Frau gewesen, deren Lebensweise den damaligen Konventionen einen Schritt vorauseilte. Birgits Schads Mutter hatte zunächst Schneiderin gelernt, dann aber auf Sekretärin umgesattelt. Sie war eine Frau, nach der sich Männer umdrehten. „Ich kann sie alle haben”, hat sie sich einmal gegenüber ihrer Tochter geäußert. Ihre wechselnden Freunde waren stets einige Jahre jünger als sie selbst. Bezeichnend ist, wie Hildegard Knauft ihrer damals 16 Jahre alten Nichte Monika Thomas einbläute, „nenn’ mich bloß nicht Tante”, als die beiden gemeinsam auf ein Tanzfest gingen. Die 36-jährige, frischgebackene Mutter wollte beim Amüsement unter jungen Leuten auf keinen Fall alt wirken.

Hatte sich Hildegard Knauft 1967 im Hotel Cala Bona im gleichnamigen Küstenort einen Urlaubsflirt angelacht? Wurde sie auf Mallorca schwanger? Ist es der einbeinige Kölner gewesen, der mit ihr die Tochter zeugte? „Ich zumindest war es nicht!”, sagt Sebastià Bauzá mit einem Schmunzeln. Der Direktor des Familienhotels Cala Bona war damals 21 Jahre alt. Noch heute führt er den Traditionsbetrieb. „Wir haben hier Stammgäste, die uns seit Jahrzehnten besuchen.”

Existieren noch Gästebücher von damals, in denen sich nachlesen ließe, wer zu Herbstbeginn 1967 Gast in dem Hotel gewesen war? „Nein”, bedauert Bauzá, da gibt es nichts mehr. In jener Zeit wurden zudem nur Namen und die Staatsangehörigkeit notiert, keine Heimatadressen der Gäste. So ließe sich nicht erschließen, ob jemand aus dem Großraum Köln zu Gast gewesen wäre.

An einen bestimmten Gast mit künstlichem Bein kann sich Bauzá ohnehin nicht entsinnen. Denn in jener Zeit gab es so manchen Kriegsversehrten aus Deutschland, der dort Urlaub machte. Es handelte sich um ehemalige Wehrmachtsangehörige, die im Krieg einzelne Gliedmaßen oder ganze Arme oder Beine verloren hatten.

Betrachtet man Fotos aus jener Zeit, lassen sich leicht Rückschlüsse auf das Ambiente im Hotel Cala Bona ziehen. Der Tourismus steckte noch in den Kinderschuhen, Neckermann hatte erst wenige Jahre zuvor die Pauschalreise für die breite Verbrauchermasse erschwinglich gemacht. Für nicht wenige Urlauber handelte es sich um die ersten Ferien, die sie per Flugzeug im Ausland verbrachten. „Ich war 1964 das erste Mal im Hotel Cala Bona, 14 Tage für 400 D-Mark”, erinnert sich Günter Lohde aus Hamburg. Seitdem hat er fast jedes Jahr einen Urlaub in dem Haus genossen. Seinerzeit wies das Hotel weniger Zimmer als heute auf. Die Toiletten und Duschen befanden sich in jeder Etage auf dem Gang. „War eben alles noch’n büschen Steinzeit”, lacht Lohde.

Gleichwohl habe in dem Haus unter den Urlaubern beste Stimmung geherrscht. Neben deutschen Gästen gab es Niederländer und Franzosen, die draußen auf dem Sandplatz Boule spielten. Dreimal die Woche stand Hühnchen auf dem Speiseplan des Hotelmenüs, abends wurden Bingo-Runden veranstaltet. „Und wir haben getanzt wie die Wilden”, schwärmt Lohde von den vergnüglichen Sommernächten der Vergangenheit.

So in der Art muss man sich vermutlich auch den Aufenthalt von Hildegard Knauft vorstellen, als die 1967, im Alter von 35 Jahren alleine auf die Insel reiste. Vermutlich hat sie damals rasch Anschluss gefunden. „Sie war später noch mehrmals in dem Hotel”, weiß Birgit Schad, „es zog sie immer wieder auf die Insel, weil sie dort immer so schöne Urlaube hatte. Auf den wenigen erhalten gebliebenen Fotos – Hildegard Knauft hatte später viele Aufnahmen entsorgt – entdeckt die Tochter ihre Mutter im Bikini. Einmal ist auf den Aufnahmen auch ein junger Mann zu sehen. „Juan und ich”, steht handschriftlich auf der Rückseite eines Schwarz-Weiß-Fotos von 1960, das Knauft und den Mann an der Tür eines zeitgenössischen Ausflugsbusses irgendwo im Süden zeigt. „Meine Mutter schloss leicht Freundschaften. Sie war ein fröhlicher, offener Mensch, absolut lebenslustig und lebensfroh.”

Und dennoch ist für Birgit Schad die Mutter irgendwo stets eine Unbekannte geblieben. „Wir hatten nie eine innige Mutter-Tochter-Verbundenheit”, sagt sie. Schad erinnert sich, wie sie als Kind mit ihrer Mutter eine längere Fahrt unternahm, um eine deutlich ältere Dame zu besuchen. Es war das einzige Mal, dass sie diese angebliche „Tante” traf. Heute fragt sich Schad, ob es sich dabei nicht um ihre Großmutter gehandelt haben könnte, also um die Mutter ihres biologischen Vaters, die einmal in ihrem Leben das Enkelkind zu Gesicht bekommen wollte.

Schads Mutter hüllte ihre Vergangenheit in Schweigen. Als ihre Tochter sie für den Schulunterricht zu ihren Erlebnissen im Krieg befragen sollte, schrieb Hildegard Knauft der Lehrerin einen einzigen Satz: „Ich möchte nicht an diese Zeit erinnert werden.”

Erst kurz vor ihrem Tod unternahm Hildegard Knauft zaghafte Anläufe, sich zu öffnen. So wie etwa zu dem Zeitpunkt, als sie ihrer Tochter berichtete, eine Cousine zu haben. Schad, die ihre Mutter in dem Altenheim pflegte, traf sie dort einmal aufgelöst an. „Du bist so lieb zu mir, und ich habe ein so schlechtes Gewissen”, weinte Hildegard Knauft. „Warum hast du denn ein schlechtes Gewissen?”, hakte Schad nach. Aber darauf gab es letztlich keine Antwort. Aus der verheimlichten Vaterschaft zieht Schad heute ein Fazit: „Es muss ihr größtes Geheimnis aller Zeiten gewesen sein”, sagt die Tochter über die Mutter.

Ist der mutmaßliche Kölner Birgit Schads Vater? Diese Frage lässt die 52-Jährige nicht mehr los. „Und ich frage mich auch, ob er noch lebt. Wer weiß, vielleicht habe ich sogar Halbgeschwister”, sagt Schad. Was sie freut, ist die Verbindung nach Mallorca. Irgendwie hat sie sich der Insel immer zugehörig gefühlt, ohne genau zu wissen, warum. Schon als junge Frau unternahm sie eine Ferienreise dahin, lernte bald Spanisch, arbeitete später als Reiseleiterin bei der Tui, war weltweit unterwegs, ist heute in Osnabrück als Dolmetscherin und Sprachlehrerin aktiv. „Immer wenn ich auf die Insel komme, habe ich das Gefühl nach Hause zu kommen. Es ist irgendwie ganz eigenartig!”

Dass ein Mallorquiner im Hotel Cala Bona zu ihrem Vater geworden sein könnte, daran glaubt Schad nicht. Zu sehr ist der Kölner mit der Beinprothese in der jüngsten Familienchronik präsent.

Und wenn sich zu dem Mann nichts weiter finden lässt? Schad gibt sich realistisch. „Ich leide nicht unter der Situation. Für mich geht das Leben normal weiter.” Gleichwohl bleibt da eine Leerstelle. Und darum gibt die Frau die Hoffnung nicht auf, eines Tages doch noch den entscheidenden Hinweis zu erhalten.