Nas sowas! Die Kirche von Son Servera hat kein Dach. | Ultima Hora

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Mit lautem Krachen fällt das schwere Gittertor ins Schloss. Ein Junge mit kurzer Hose und hellgrünem Hemd ist eben hindurchgeschlüpft und jagt jetzt schon dem Ball hinterher. Immer wieder bolzt er ihn mit aller Kraft kreuz und quer durch das Kirchenschiff. Dort, wo eigentlich die Bänke stehen sollten, befinden sich zwei Fußballtore. Statt Heiligenbildern ist in einer der Seitenkapellen ein Basketballkorb angebracht. Blickt man nach oben, sieht man am blauen Herbsthimmel die Wolken vorüberziehen. Hin und wieder flattert eine Taube verschreckt auf. „Wir treffen uns hier zum Fußballspielen”, ruft der Junge. „Gleich kommen meine Freunde vorbei.”

Einen ungewöhnlicheren Bolzplatz als diesen gibt es auf ganz Mallorca nicht. Es handelt sich um die unvollendete Kirche von Biniamar, die dort zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstehen sollte und deren enorme Außenmauern ahnen lassen, wie ehrgeizig das Bauprojekt einst war. Und die kleine, gedrungene, der heiligen Thekla gewidmete historische Dorfkirche, die nur ein paar Schritte entfernt liegt, lässt die neogotische Bauruine nur umso größer erscheinen.

Der Weiler unweit von Lloseta, der aus nichts weiter als einer Hauptstraße, einer Bar und ein paar Dutzend Häusern besteht, ist nicht der einzige Ort auf der Insel, in dem es ein derart kurioses Baudenkmal gibt. Auch in dem kleinen Bergdorf Estellencs ist der Ausbau des Gotteshauses nie ganz fertig geworden. Das wohl berühmteste Beispiel aber befindet sich in Son Servera, ganz im Inselosten.

Bis an die Außenmauern der im ganzen Dorf ausgeschilderten Església Nova stehen dort die Wohnhäuser. Sich einen richtigen Eindruck von dem Bauwerk zu verschaffen, ist also gar nicht so einfach. Dennoch gehört die halbfertige Kirche zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten von Son Servera, immerhin stammten die Pläne von dem katalanischen Architekten Joan Rubió i Bellver, einem engen Mitarbeiter von Antoni Gaudí. An diesem Novembermorgen ist ein junges Touristenpärchen vor Ort, das es vor allem auf spektakuläre Bilder abgesehen hat: Der junge Mann lässt eine laut surrende Drohne steigen, um die Ruine von oben filmen zu können.

Tatsächlich erschließen sich die wahren Ausmaße des Gotteshauses erst, wenn man die Perspektive wechselt. Vom Friedhofshügel aus, der etwas außerhalb des Ortes liegt, kann man gut sehen, dass die Mauern sämtliche umliegenden Gebäude weit überragen. Auch die alte, Johannes dem Täufer gewidmete Dorfkirche nimmt sich daneben geradezu kümmerlich aus.

Das ist auch der Hauptgrund, warum das Bauprojekt zu Beginn des 20. Jahrhunderts überhaupt in Angriff genommen wurde: Das bisherige Gotteshaus galt als zu klein und machte zu wenig her, wie viele in dem Ort fanden. Die Überzeugung war weit verbreitet, das Dorf brauche dringend eine neue, größere und würdigere Kirche. Der Zeitzeuge Miquel Gayà etwa schrieb damals: „Die Kirche von Son Servera ist eine der ärmlichsten und schlechtesten Mallorcas, nicht nur vom künstlerischen Standpunkt aus, sondern auch aus baulicher Sicht. Von außen wirkt sie wie ein Lagerhaus, von innen wie ein Wasserbassin. So feucht wie sie ist, düster und schwarz, ist sie geradezu erbarmungswürdig. Jede Verbesserung, die man an ihr versuchen kann, bedeutet Geld aus dem Fenster zu werfen und Zeit zu verlieren.”

Zunächst war auch der Ausbau des bisherigen Gotteshauses erwogen worden, diese Pläne aber wurden dann rasch wegen dessen schlechten Zustandes sowie wegen des fehlenden Platzes ringsherum verworfen. Auch die hohen Kosten eines solchen Vorhabens schreckten die Gemeindeoberen seinerzeit ab.

Dass man in Son Servera die Notwendigkeit eines Kirchenneubaus sah, mag auch daran gelegen haben, dass man im nicht weit entfernten Son Carrió bereits dabei war, eine überaus prachtvolle Kirche zu errichten, an dessen Plänen gar der katalanische Architekt Antoni Gaudí mitgearbeitet hatte. Die treibende Kraft bei dem Vorhaben in Son Servera war der damalige Priester des Ortes, Antoni Servera. Auch der damalige Generalvikar der Insel, Mossén Antoni Alcover, setzte sich vehement für einen Neubau ein, ebenso der Bischof höchstselbst, Pere Joan Campins, der auch für die Umgestaltung der Kathedrale von Palma durch Gaudí verantwortlich war.

Im Jahr 1902 zeichnete sich erstmalig eine Lösung ab, wie der Kunsthistoriker Sebastià Servera in seinem Buch über die unvollendete Kirche schreibt. Ein wohlhabender Bewohner des Ortes war bereit, das nötige Bauland zu stiften. Als sich jedoch der Kauf der angrenzenden Grundstücke als unmöglich erwies, scheiterte dieses erste Projekt, zumal auch die Lage auf einer Anhöhe und etwas entfernt vom historischen Ortskern nicht alle überzeugte. Auch ein weiterer Versuch an anderer Stelle scheiterte.

Im Dezember 1904 dann gelang endlich der Durchbruch. Die Gemeinde erwarb für die damals bedeutende Summe von 4750 Peseten ein Grundstück. Die Finanzierung gelang in nur vier Monaten durch eine Spendensammlung unter den Dorfbewohnern, eine Reihe von Tombolas sowie die Beiträge der wohlhabenden Gutsbesitzer – und das, obwohl die Ernte in jenem Jahr ganz besonders schlecht gewesen war, wie Servera schreibt. Am 27. August 1905 war es dann soweit: Der Bischof Mallorcas weihte das Grundstück, der Grundstein wurde gelegt. Ganz Son Servera war festlich geschmückt mit Fähnchen, Wimpeln und herrlich duftenden Myrtenzweigen. Selbst ein hölzerner Triumphbogen wurde eigens zu dem Anlass errichtet. Der religiösen Zeremonie wohnten dann allerdings nicht ganz so viele Bürger bei, wie erwartet, was wohl an der brennenden Augustsonne und der langen Dauer solcherlei Veranstaltungen gelegen haben muss, wie der damalige Gemeindechronist vermutete.

Mit großem Enthusiasmus und hoher Spendenbereitschaft startete das Vorhaben, wovon die regelmäßigen Kollekten zeugten, aber auch die bereitwillige Unterstützung beim Transport des Baumaterials aus dem nahgelegenen Steinbruch. Sämtliche Männer des Dorfes waren zum Freiwilligendienst verpflichtet, die Frauen wiederum waren für die Versorgung der Baustelle mit Wasser zuständig, damit dort der Mörtel gemischt werden konnte. Ging das Wasser zur Neige, läutete man eine Glocke und schon eilten die Helferinnen herbei.

Bis zum Jahr 1915 gingen die Arbeiten zügig voran, dann allerdings verliefen sie immer schleppender. Das dürfte unter anderem am Tod des größten Fürsprechers des Bauwerks, Bischof Campins, im selben Jahr gelegen haben. Im Jahr 1931 wurden die Arbeiten dann ganz eingestellt. „Das Werk war wohl zu ambitioniert”, schreibt Sebastià Servera. „Nach 25 Jahren Arbeit und finanziellen Kosten hatte sich Mutlosigkeit unter den Einwohnern breit gemacht. Schließlich fehlte noch immer so viel, um die Arbeiten abschließen zu können.” Hinzu kommt, dass mit der Ausrufung der Republik im April 1931 und der kurz darauf beschlossenen Religionsfreiheit die Zeit der großen Kirchenbauten endgültig abzulaufen schien. „Was das emblematischste Bauwerk von Son Servera werden sollte, wurde zum Gemüsegarten des jeweiligen Dorfpriesters.” Heute wird die Ruine für kulturelle Veranstaltungen genutzt (und ist wochentags von 9.30 bis 14.30 Uhr zu besichtigen).

In Biniamar dagegen geht das Bauprojekt vor allem auf Antoni Maura zurück. Der Mallorquiner war Politiker in Madrid, Abgeordneter, Minister und schließlich zwischen 1903 und 1922 mehrfach Regierungschef. Aufgrund persönlicher Beziehungen nach Biniamar gewährte Maura zu Beginn das 20. Jahrhunderts eine Finanzhilfe, um den Bau eines neuen Kirchengebäudes in dem Weiler vorantreiben zu können. Der damalige Diözesanarchitekt Guillem Reynés zeichnete für die Baupläne verantwortlich. An der Fassade der Kirche erinnert eine Plakette an den 100. Jahrestages des Baubeginnes im Jahr 1910. Auch hier aber fehlte es schließlich an Finanzmitteln. Dazu kam noch, dass es aufgrund der geringen Einwohnerzahl schlicht an tatkräftiger Unterstützung beim Bau mangelte.

Und so schallt heute eben lautes Kindergeschrei durch die Kirchenruine von Biniamar. Aber wer weiß schon, wo sich die Jungs herumtreiben würden, gäbe es nicht diesen inselweit einzigartigen Bolzplatz. Und auch die kleine Dorfschule hätte andernfalls ein Problem: Das halbfertige Gotteshaus dient nämlich auch als nach oben offene Halle für den Turnunterricht.