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Man kann sich ausmalen, wie die Mallorquiner den fremdländischen Namen ausgesprochen haben dürften: „Ess-Stresse-Man”. Im Juli 1933 wurde in Palma eine Straße nach einem der wichtigsten deutschen Staatsmänner der Weimarer Republik benannt. Gustav Stresemann. Reichskanzler. Außenminister. Friedensnobelpreisträger.

Ob der Zeitpunkt der Umbenennung – die Straße hieß zuvor schlicht „23” – als Spitze gegen Nazi-Deutschland gewählt war? Als der Stadtrat von Palma den Namenswechsel offiziell verkündete, war Hitler bereits seit sechs Monaten an der Macht. Eines seiner zuvor immer wieder lautstark propagierten Ziele war stets gewesen, die ihm verhasste Weimarer Republik abzuschaffen. Wollte der Stadtrat von Palma während der Spanischen Republik also damit ein politisches Gegenzeichen setzen? Zweifel dürfen angebracht sein. Denn wenn man aus Erfahrung weiß, wie viel Zeit Entscheidungen in Palma mitunter benötigen, bis sie tatsächlich umgesetzt werden, dann dürfte das Vorhaben, eine „Calle de Stresemann” einzuführen, bereits mehrere Jahre alt gewesen sein.

Dafür spricht auch die Tatsache, dass neben der „Stresemann” eine benachbarte Straße nach dem französischen Politiker Aristide Briand benannt wurde. Stresemann und Briand waren 1926 gemeinsam mit dem Friedensnobelpreis geehrt worden. Die Auszeichnung würdigte die Bemühungen der beiden Staatsmänner, nach dem Ersten Weltkrieg einen friedlichen Ausgleich zwischen Deutschland und Frankreich herbeizuführen.

Ihr Vertragswerk, das am schweizerischen Nordufer des Lago Maggiore ausgehandelt worden war, ließ Westeuropa aufatmen: Der berühmte "Vertrag von Locarno" schrieb die deutsche, französische und belgische Grenze fest. Es wurde ein gegenseitiger Gewaltverzicht vereinbart und das Rheinland entmilitarisiert. Deutschland wurde zudem in den Völkerbund aufgenommen, der Vorläuferorganisation der heutigen Vereinten Nationen.

Wohl eher aufgrund dieser Errungenschaften widmete das Rathaus von Palma dem deutschen Politiker mit dem Zungenbrechernamen eine Straße seines Stadtgebietes, am Nordrand der Plaça Madrid gelegen, die damals noch von alten Kiefern beschattet war.

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Wer war Gustav Stresemann? Um seine Bedeutung heutigen Zeitgenossen zu veranschaulichen, ließe er sich am ehesten mit Hans-Dietrich Genscher vergleichen. Beide standen jeweils als Vorsitzende der DVP (Deutsche Volkspartei) beziehungsweise der FDP liberalen Parteien vor, beide waren ungeachtet diverser Koalitions- und Regierungswechsel langjährige Außenminister ihres jeweiligen Staatsgebildes. Stresemann, der vor nunmehr fast 90 Jahren im Oktober 1929, drei Wochen vor dem New Yorker Börsenkrach des „Schwarzen Freitags”, einem Schlaganfall erlag, gilt wie kein anderer als Vertreter der stabileren Phase der Weimarer Republik beziehungsweise der sogenannten „Goldenen Zwanziger Jahre”.

Die in Palma nach ihm benannte Straße trug den Namen lediglich vier Jahre. Im März 1937 – Spanien befand sich mitten im Bürgerkrieg, und auf Mallorca hatten die Franquisten das Sagen – wurde die „Calle de Stresemann” schlicht zur Verlängerung der bereits seit Jahren schon existierenden „Calle de las Manos”.

Als Spanien nach Francos Tod zur Demokratie zurückkehrte und im Rathaus von Palma erstmals die Sozialisten die Mehrheit stellten, ließ der Stadtrat die Manos-Straße 1982 umbenennen in „Carrer d’Emili Darder”. Das war wiederum der letzte Bürgermeister der Stadt in den Jahren der Spanischen Republik gewesen. Darder wurde Ende Februar 1937 nach einem juristischen Scheinprozess von den Franquisten zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Die Stresemann-Straße in Palma stellte nicht nur eine Hommage an einen deutschen Politiker dar. Sie ist auch ein Beleg dafür, dass deutscher Einfluss auf Mallorca schon in den Jahren vor dem Bürgerkrieg deutlich stärker ausgeprägt war als gemeinhin angenommen wird. Sogar Deutsche sollen schon damals in der Calle de Stresemann zu finden gewesen sein: Angeblich bewohnte dort ein Ehepaar Güntner ein Haus mit der Nummer 6.

Doch aus jenen Zeiten ist kaum noch etwas übrig. Im Zuge des Baubooms der 1970er Jahre wurden in dem Viertel nach und nach nahezu alle traditionellen Einfamilienhäuser abgerissen. Das moderne Palma schuf sich Platz für gesichtslose Wohnblöcke sowie für den gigantischen Wohnturm "Torre de Madrid", der die heutige Plaza dominiert.