Einsam und entrückt: Cabrera.

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Um 10.39 Uhr wirft Eduardo Lustres die beiden 450-PS-Motoren an. Sanft vibrierend gleitet die „L'Imperial Jet” aus dem Hafen von Colònia de Sant Jordi. In der Ferne schwebt die Insel Cabrera über dem Wasser. Das Meer ist so glatt, dass der Eindruck entsteht, es ließe sich leichthin hinüberschwimmen. 18'5 Kilometer trennen Cabrera von Mallorca. Eine gute Stunde dauert die Fahrtzeit. Rund 30 Passagiere, Spanier, Deutsche, Niederländer, freuen sich auf einen sonnigen Tag. „Das wird ein super Ausflug”, sagt eine 60-jährige Urlauberin erwartungsvoll zu ihrem Mann.

Für die Franzosen vor genau 200 Jahren muss Cabrera dagegen eine herbe Enttäuschung gewesen sein. Ausgezehrt von Entbehrungen und Krankheiten landeten in den Tagen vom 5. bis 10. Mai 1809 Tausende von ihnen als Kriegsgefangene auf der kargen Felsinsel. Bis zu ihrer Ankunft auf dem unwirtlichen Eiland hatte man sie in dem Glauben gelassen, sie gegen gefangene Spanier austauschen zu wollen. Angesichts der zerklüfteten Klippen und Felsvorsprünge dürfte die Hoffnung der Männer, rasch in ihre Heimat entlassen zu werden, wie eine Seifenblase zerplatzt sein.

Der mallorquinische Schriftsteller Baltasar Porcel war nicht der erste, sehr wohl aber der renommierteste Denker der Balearen, der Cabrera als „das erste Konzentrationslager der Menschheit” bezeichnete. Tausende Männer (und etwa zwei Dutzend Frauen) mussten bis zu fünf Jahre auf der Insel unter sengender Sonne wie in bitterkaltem Wind darben, bei kaum ausreichenden Nahrungsmitteln und noch weniger Trinkwasser. Viele Tausend starben auf dem Eiland, ohne dass ihre Namen irgendwo festgehalten wurden.

Zwei Jahrhunderte nach ihrer Ankunft erinnern der Meeres-Nationalpark von Cabrera und seine Museen mit einigen Schautafeln an das Leiden der Kriegsgefangenen. Die Militärs – das spanische Verteidigungsministerium ist nach wie vor Eigentümer des Eilands, auch wenn die Verwaltung des heutigen Naturparks noch diesen Sommer in die Zuständigkeit der Balearen-Regierung übergehen soll – organisierte am Mittwoch eine Gedenkveranstaltung, zu der auch Vertreter Frankreichs anreisten. Am Ende des Jahres soll zusätzlich eine große Ausstellung auf Mallorca an das tragische Schicksal der Cabrera-Gefangenen erinnern.

Die Männer, die damals unterhalb der mittelalterlichen Burg von Cabrera angelandet wurden, waren allesamt Soldaten der geschlagenen napoleonischen Armee in Spanien. Hinter ihnen lagen die militärische Niederlage im andalusischen Bailén vom Juli 1808 und lange Monate der Gefangenschaft auf Ponton-Schiffen in der Bucht von Cádiz. Schon dort war der Tod allgegenwärtig. Zeitgenössischen Berichten zufolge starben an Hunger, Durst und mangelhaften hygienischen Verhältnissen 80 bis 300 Mann am Tag. Die Leichen wurden ins Meer geworfen, die Wellen spülten sie an die südspanische Küste.

Unterdessen stocken die Verhandlungen über einen Austausch. Der spanische Verteidigungsrat und die Briten, Napoleons Hauptgegner, denken nicht daran, der Militärmacht des Franzosenkaisers durch die Rückführung Tausender Gefangener neue Kräfte zukommen zu lassen. Darum sollten die gefangenen Franzosen auf den Kanaren sowie auf den Balearen interniert werden. Der Verteidigungsrat von Mallorca wehrt sich vehement gegen diese Pläne. Man fürchtet den Feind im eigenen Haus, verweist auf die ohnehin angespannte Versorgungslage der eigenen Bevölkerung, warnt vor Epidemien und Seuchen. Vergeblich. Die Kompromisslösung besteht darin, die Anwesenheit der Franzosen auf Cabrera allein zu beschränken. Nur höchste Offiziere dürfen in die Gefangenschaft nach Palma.

Wie viele Franzosen, aber auch Polen, Schweizer, Italiener und Deutsche ein Dasein als Kriegsgefangene auf Cabrera fristen mussten, ist unter Historikern umstritten. Genaue Zahlen gibt es nicht. Von den 18.000, die bei Bailén in Gefangenschaft gerieten, wurden 4000 auf die Kanaren sowie rund 9000 nach Cabrera gebracht. Von diesen waren 1814, als Napoleon geschlagen und die Männer nach Hause kehren konnten, nur mehr 3600 auf der Insel übrig.

Das bedeute nicht, dass damit 5400 Soldaten auf dem Eiland an Hunger, Durst und Krankheiten zugrunde gingen, erklären balearische Historiker wie Miquel Bennàssar. Manchen Franzosen gelang die Flucht auf Flößen oder Fischerbooten, andere wurden ausgetauscht oder für Arbeiten auf britischen Kriegsschiffen requiriert. Genaue Daten seien nicht vorhanden. Gleichwohl besagen viele Schautafeln auf Cabrera, dass dort zwischen 3000 und 5000 Franzosen den Tod fanden.

Prekär waren die Verhältnisse vor allem in den ersten zwölf Monaten der Gefangenschaft. Die Franzosen kampierten nahezu unter freiem Himmel oder in Höhlen. Das halbverfallene Kastell mit seiner engen Wendeltreppe als einzigem Zugang wurde zum Lazarett umfunktioniert. Die Festung, um 1400 gegen Piratenangriffe errichtet, war aber bald überlastet. Hier arbeiteten die etwa 20 Frauen, ehemalige Marketenderinnen, als Pflegerinnen. Zum Teil prostituierten sie sich für Lebensmittel. Eine Handvoll Kinder soll in jenen Jahren auf Cabrera das Licht der Welt erblickt haben, berichten Führer im Museum auf Cabrera.

Die Bewachung der Gefangenen sowie ihre Versorgung mit Lebensmitteln und zusätzlichem Trinkwasser ist Aufgabe der britischen Marine. Die einzige Quelle auf dem Eiland reicht vor allem im Sommer nicht aus. Nach etwa einem Jahr festigt sich ein Belieferungssystem. Brot und Bohnen, sind Nahrung, die per Schiff regelmäßig nach Cabrera gelangt. Auf demselben Weg wird sogar Post befördert.

Ein Mallorquiner, Josep Maria Billón, wird schließlich mit der Versorgung beauftragt. Dafür gibt es für den Händler Geld aus Cádiz. Er sorgt für einen mehr oder weniger reibungslosen Ablauf, doch böse Zungen behaupten, Billóns Aufgabe machte auch ihn reich. Sein ehemaliges Wohnhaus ist heute mit dem „Abaco” in Palmas Lonja-Viertel ein beliebtes Lokal, schrieb unlängst das „Ultima Hora”-Magazin „Brisas”.

In aller Not wussten die Franzosen auf Cabrera sich zu organisieren: Sie bauten primitive Unterkünfte, deren Fundamente durch jüngste Ausgrabungen auf der Insel zutage gefördert wurden. Es waren winzige Kammern aus Stein und Holz. Gefangene fertigten aus dem Holz der Macchiagewächse Besteck und Kunsthandwerk an, wie etwa ein überliefertes Schachspiel. Mit den Waren trieben sie mit mallorquinischen Fischern Handel. Die Knöpfe der ehemaligen Uniformen dienten vermutlich als Zahlungsmittel untereinander. Andere Gefangene legten Gemüsebeete an oder hatten zur Aufgabe, den Speiseplan mit allem Essbaren aufzustocken, was die Insel hergab. Der einzige Esel, Martín, der auf Cabrera lebte, wurde ebenso verspeist wie alle habhaft gewordenen Ziegen, Kaninchen, Möwen, Eidechsen, Ratten, Würmer, Fische, Seeigel, Muscheln, Krebse. Am Ende soll so gut wie kein Tier mehr auf der Insel zu finden gewesen sein, kaum noch ein Baum gestanden haben.

Fälle von Kannibalismus sind als Legende überliefert, werden aber von Historikern in Zweifel gezogen. Als sicher gilt dagegen, dass in einer Höhle Theaterstücke aufgeführt wurden und Schreibkundige die Zeit nutzen, ihren analphabetischen Kameraden die Welt der Buchstaben nahezubringen.

All diese humanistischen Ansätze können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Dasein auf Cabrera für die Überlebenden geprägt war von Entbehrung, Krankheit, Ungewissheit und Tod. Die wenigen überlieferten Briefe, Berichte und Kohlezeichnungen derjenigen, die 1814 das Ende ihrer Gefangenschaft erlebten, sprechen Bände über das durchlittene Grauen. Das steinige Erdreich war so mit Toten angefüllt, dass die Wassermassen einer Regenflut die Leichen auswuschen und in die Bucht spülten.

Als nach dem Ende Napoleons endlich Schiffe eintrafen, um die Verdammten zu erlösen, fackelten die Befreiten alle Notunterkünfte ab, so als ob sie sich die Leiden der Vergangenheit aus der Seele brennen wollten. Auf diese Weise ist von den damaligen Kriegsgefangenen kaum etwas Greifbares der Nachwelt überliefert worden. Auch der Name jenes Gefangenen ist nicht bekannt, der anlässlich seiner Befreiung dichtete: „Wir können in jede Richtung verkünden / dass der Frieden uns wiederauferstehen ließ / denn man kommt aus der anderen Welt / wenn man aus Cabrera zurückkehrt.”