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, 29. Juni – Das Leben auf der Straße hat Ina Wölfl vielleicht hart im Nehmen gemacht – ihre Mitmenschlichkeit hat darunter nicht gelitten.
Als die obdachlose Deutsche (52), die zurzeit nachts auf einer Bank auf der Plaça d‘Espanya schläft, am frühen Dienstagmorgen Rufe und „so ein komisches Röcheln“ hört, zögert sie keine Sekunde. Wenige Schritte weiter liegt hinter einem Kiosk ein Mann auf dem Boden: „Er war über und über mit grauschwarzer Farbe übergossen, auch sein Gesicht.“ Sie sieht noch vier, fünf Jugendliche, die von ihrem Opfer ablassen und die Flucht ergreifen, als sie die Frau auf sich zukommen sehen. Der Mann hat inzwischen das Bewusstsein verloren: „Ihm lief Farbe auch aus dem Mund, er atmete kaum noch.“

Ina Wölfl zögert nicht lange: „Ich war früher mal Rettungsschwimmerin und kann Erste Hilfe leisten.“ Mit einem Papiertaschentuch wischt sie dem Mann den Mund aus, versucht mit ihrem Asthma-Spray – „,Ich bin Asthmatikerin und habe es immer dabei“ – seine Bronchien zu befreiten, macht anschließend Mund-zu-Mund-Beatmung. Dann ruft sie den Rettungsdienst: „Da stand ja eine Telefonzelle, und die 112 ist kostenlos.“

In dem Opfer hat die 52-Jährige inzwischen auch ihren deutschen Freund Alexander erkannt, der wie sie obdachlos ist: „Durch die ganze Farbe war er vorher überhaupt nicht zu erkennen gewesen.“ Die Ambulanz, die kurz darauf eintrifft, versucht fast eine Stunde lang, den Mann noch vor Ort vor dem Erstickungstod zu retten: Die toxischen Farbstoffe in seiner Lunge haben zu Krämpfen der Bronchialmuskulatur (Bronchialspasmen) geführt. Anschließend wird der 41-Jährige auf die Intensivstation des Krankenhauses Son Espases gebracht, sein Zustand ist überaus kritisch (inzwischen soll er außer Lebensgefahr sein).

Die Beamten der spanischen Nationalpolizei, die umgehend Ermittlungen aufnehmen, kommen schnell auf die Spur zweier Minderjähriger: Laut Zeugenaussagen sollen die beiden (in Begleitung weiterer Jugendlicher) den schlafenden 41-Jährigen am Dienstagmorgen gegen 4.30 Uhr erst bespuckt und beschimpft, dann mit Farbe übergossen haben. Einer der mutmaßlichen Täter, ein 16-Jähriger, wird nach Polizeiangaben noch in der Nacht zum Mittwoch gegen 23 Uhr in der Straße Olmos in Palmas City, unweit vom Tatort, gestellt, der zweite, ein 17-Jähriger, geht den Ermittlern etwa vier Stunden später in Arenal an der Playa de Palma ins Netz.

Beide Verdächtige sollen mehrere Nächte in einem Zelt auf der Plaça d‘Espanya verbracht haben, zählen jedoch nicht zur Protestbewegung 15. Mai, wie in Beamtenkreisen anfangs vermutet worden war. Einige der „Indignados” (Empörten), so eine Polizeisprecherin, hätten im Gegenteil im weiteren Verlauf der Ermittlungen aktiv dazu beigetragen, den Sachverhalt aufzuklären. Auch ein anderes Mitglied der Protestbewegung, das kurzfristig wegen unterlassener Hilfeleistung verhaftet worden war, sei inzwischen wieder auf freiem Fuß.

Während die beiden mutmaßlichen Täter laut Polizeiangaben ihren Gewaltexzess in bisherigen Verhören als „broma pesada“ (schlechten Witz) zu rechtfertigen versuchen – inwieweit auch Drogen im Spiel waren, sei noch nicht abschließend geklärt – , sprach Ramón Socías, Delegierter der Zentralregierung auf den Balearen, von einem fundamentalen „Scheitern der Erziehung bei der Vermittlung von Werten“. In Anlehnung an ähnliche, wenn auch fiktive Gewaltszenen in Stanley Kubricks Film „A Clockwork Orange“ von 1971 warnte Socías weiter: „In unserer modernen Gesellschaft werden Tendenzen sichtbar, die an das Verhalten von Neonazis erinnern.“

Auch Ina Wölfl hat festgestellt: „Die Gewaltbereitschaft nimmt zu.“ Die Deutsche wurde schon selbst Opfer eines Brandanschlags von Jugendlichen und „Ich werde immer mal wieder angegriffen, und sei es mit Schimpfworten.“ Die Gewalt habe auch mit dem zunehmenden Drogenkonsum zu tun, glaubt sie: „Da ticken die einfach aus.“

Vor zehn Jahren, als sie mit ihrem Mann von München nach Mallorca kam und mit ihm ein Haus bei Santanyí bezog, sei die Welt noch in Ordnung gewesen. Nach Betrug und Rauswurf landet sie irgendwann auf der Straße. Neben Alexander, der nun in Son Espases liegt, habe sie oft auf der Bank gesessen, die beiden passen auch abwechselnd auf ihre Habseligkeiten auf, die sie immer dabei haben. Ina würde ihn gern besuchen, aber: „Das Fahrgeld für den Bus muss ich erstmal zusammenkriegen.“ Sie sammelt vergessene Münzen in Telefonzellen und Einkaufswagen in Supermärkten: „An guten Tagen komm‘ ich auf fünf Euro.“ Dass sie ihrem Freund das Leben gerettet hat, sieht sie als keine große Sache: „Für mich ist das normal.“