Gabriele Baring ist häufig an der Costa de Canyamel zu Gast. | Foto: mic

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Mallorca Magazin: Nur 61 Prozent der Deutschen bezeichnen sich als glücklich, aber 80 Prozent der Griechen und Spanier. Sie schreiben von dunklen Ängsten, Selbsthass und schleichender Depression, die angeblich auf Traumata aus dem Zweiten Weltkrieg zurückzuführen sind. Für die jüngere Generation sind Schuld und Leid aber doch gar kein Thema mehr. Wie kann es sein, dass sich so etwas bis heute fortpflanzt?

Gabriele Baring: Das Erbgut verändert sich durch das, was man erlebt. Das ist eine wissenschaftliche Erkenntnis - davon abgesehen, dass das ungeborene Kind neuneinhalb Monate als Zelle der Mutter verbringt und so auch ihres unbewussten Wissens teilhaftig wird. Unser Fühlen, Denken und Handeln wird fast gänzlich durch das Unbewusste gesteuert. Nur das Wenigste davon können wir wirklich frei entscheiden. Die Übertragung der Informationen geschieht aber nicht nur biologisch, sondern auch atmosphärisch, zum Beispiel durch erzählte und nicht erzählte Familiengeschichten, die uns Rätsel aufgeben. In Deutschland gibt es viele unterdrückte Gefühle. "Trauerstau" lautet meine Diagnose. Um das Leid aus zwei Kriegen, zwei Diktaturen und der Vertreibung durften wir nicht angemessen trauern. Schmerz, Schock und Scham sitzen uns tief in den Knochen.

MM: Äußert sich das auch in Leistungsdruck und Selbstüberforderung wie jüngst beim deutschen Praktikanten Moritz E., der in der Londoner City nur in sieben von 14 Nächten geschlafen hat und jetzt tot ist?

Baring: Das vermag ich nicht zu sagen, da ich die Hintergründe nicht kenne. Aber hart arbeiten ohne zu jammern, das ist schon sehr deutsch. Auch Sprüche wie "Was uns nicht umbringt, macht uns härter". Wie viele um ihre Väter trauernde kleinen Jungen werden wohl nach dem ersten Weltkrieg den Satz gehört haben: "Ein deutscher Junge weint nicht"? Diese Haltung gipfelte in den strengen und autoritären Erziehungsmethoden der Nazi-Zeit. Das Buch von Johanna Haarer "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" wurde in hohen Auflagen bis in die 70er und 80er Jahre verkauft. Es war eine Anleitung zu Härte und Lieblosigkeit, wie sie auch in den kirchlichen Heimen der Nachkriegsjahre ausgeübt wurde. Bedenken Sie, dass der Krieg 2,5 Millionen Waisen und Halbwaisen hinterlassen hat. In ganz Europa waren es sogar 20 Millionen.

MM: Welche Folgen hat das?

Baring: Viele Männer wissen nicht mehr wie "Mann sein" geht, bei vielen Frauen ist es ähnlich. Dazu haben wir die Ängste und Nöte unserer Vorfahren übernommen. Deren Erlebnisse sind über viele Generationen tief in uns gespeichert, vor allem die belastenden Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts. Wir Nachfahren sollten wissen, dass Krieg, Flucht, Vertreibung, Vaterlosigkeit, Gewalt und Vergewaltigung auch in den nächsten Generationen für Störungen sorgen können, für Lebensangst und Resignation. Diese vererbte Angst, die keinen konkreten Anlass hat, ist auch eine Sekundärtraumatisierung durch traumatisierte, also gestörte und verstörte Eltern. Sie zeigt sich durch Panikattacken, Phobien, Zwangshandlungen, Aggressionen, aber auch durch Verzicht. Verzicht auf Lebensglück, auf Partnerschaft und Familie. Viele trauen sich einfach nichts mehr zu. Die unbearbeiteten Themen unserer Familien und unserer Geschichte - meist kennen wir sie nicht einmal - erfüllen uns mit Ängsten, mit Trauer, mit Wut, oft auch Hass. Diese Gefühle zeigen sich in den unterschiedlichsten Ausprägungen. Sie maskieren sich. Schlagen sie sich erst einmal körperlich nieder, sind chronische Erkrankungen in der Regel die Folge. Irgendwann wird der seelische Druck zu einem körperlichen Symptom, zu einer funktionellen Störung, sei es Asthma, Krebs, Hauterkrankungen - was auch immer. Die Früchte des Krieges sind eine kaum zu unterbrechende psychosomatische Spur, unverdaulich und sehr, sehr bitter.

MM: Sie glauben, dass die Kinderlosigkeit der Deutschen mit der Vergangenheit zu tun hat. In Skandinavien ist die Geburtenrate aber nicht viel höher. Liegen die Ursachen nicht eher in sozialer Unsicherheit und Ultra-Flexibilität in der Arbeitswelt?

Baring: Es fällt eben auf, dass ausgerechnet Deutschland in Europa ganz am Schluss liegt. Wir sind eine kinderferne Gesellschaft. Haben Sie schon mal versucht, mit Kindern eine Wohnung zu mieten? Nachwuchs gilt als laut und störend. Und das Engagement für Kinder und Jugendliche bleibt weit hinter dem zurück, was pädagogische Erkenntnisse nahelegen. Wir neigen dazu, Kinder wegzuorganisieren und sie mit Aufgaben zu überfrachten. Es ist schlimm, wenn eine Zehnjährige sagt: "Papa, ich kann nur am Wochenende". Familienarbeit darf nicht abgewertet werden. Sprüche von der "Herdprämie" sind zynisch, würdigen sowohl Mütter wie Kinder ab. Kinder leiden, wenn sie zu früh in die Tagesstätte abgeschoben werden. Ein Leid mit lebenslangen Folgen. Die volkswirtschaftlichen Folgekosten sollte Frau Merkel mal ausrechnen lassen. Aber das wird wohl dauern...

MM: Sie sprechen von einer "vaterlosen Gesellschaft" mit negativen psychosozialen Auswirkungen.

Baring: Das beginnende 21. Jahrhundert wird schon das narzisstische Jahrhundert genannt, und das 20. Jahrhundert war das vaterlose Jahrhundert, beginnend mit der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, aus dem die Väter geschlagen zurückkamen, wenn sie nicht gefallen waren. Eine autoritär erzogene, Orientierung suchende Jugend wurde dadurch führungslos, was den Aufstieg des Nationalsozialismus begünstigte.

MM: Sehen Sie dabei Parallelen zur 68er-Generation?

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Baring: Das Grundmotiv der 68er ist der Hass auf die Väter. Mit verständlicher Wut weisen sie auf deren Schuld und NS-Verstrickung hin. Dabei zeigen sie destruktive Energien, die an die Nazi-Zeit erinnern. Starrköpfigkeit, Gewalt und Frauenverachtung sind kennzeichnend - bis heute bei der Herabsetzung von Gegnern, aber auch, wenn von den "Matratzen der Nation" die Rede war. Selbst Vokabular und Stil sind militaristisch, etwa wenn es um den "Marsch" durch die Institutionen ging oder wenn im Militär-Look für den Frieden demonstriert wurde.

MM: Die 68er besetzen sämtliche Macht- und Schlüsselpositionen, während Jüngere mit Billiglöhnen und schlechten Perspektiven leben. Sie plädieren in Ihrer Therapie für eine Versöhnung der Generationen. Wäre nicht eher Konfrontation angesagt?

Baring: Dialog ist besser als Konfrontation. Gewalt ist eine Sackgasse. Es wird den Jüngeren wohl nichts anderes übrig bleiben, als die Sache auszusitzen. Allerdings würde ich mir von der jungen Generation mehr politisches Engagement wünschen. Wehrt euch und geht auf die Straße! Geht in die Politik! Mischt euch ein!

MM: Die kinderlose Mutti Merkel scheint in der vaterlosen Gesellschaft besser anzukommen als der fesch-fröhliche Herr Steinbrück.

Baring: Frau Merkel kommt vor allem deswegen gut an, weil sie eine Frau mit großen Qualitäten ist. Obwohl es Hinweise darauf gibt, dass ihre Ost-Vergangenheit ihre Haltung in einer für uns nicht unbedingt günstigen Art beeinflusst, etwa im Hinblick auf ihr Demokratie-Verständnis und ihre Familienpolitik. Steinbrück fand ich als Finanzminister klug und überzeugend, im Wahlkampf wirkt er bei den Wählern aber offenbar arrogant, elitär und ungeschickt. Insgesamt "verosten" wir. Schade.

MM: Die Wiedervereinigung ist wirtschaftlich und gesellschaftlich entgleist, bis hin zum NSU-Terror. Scheitert jetzt auch Europa?

Baring: Der Euro war eine Fehlentscheidung. Viel zu früh. Außerdem wurden zu schnell zu viele Länder in die EU aufgenommen. Man hat den Eindruck, dass manche Deutsche sich abschaffen wollen, um in Europa aufzugehen. Wenn wir uns als Person, Familie, Gemeinde und Land aufgeben, kann das aber nicht funktionieren. Alles entsprang einem blauäugigen Wunschdenken, für das wir jetzt die Rechnung zahlen, womöglich am Ende mit Zwangshypotheken auf unsere Wohnungen und Häuser. Wir haben uns mit der europäischen Integration etwas verhoben. Unterschiedliche Mentalitäten und Traditionen wurden ignoriert. Ich glaube nicht, dass Spanien oder Portugal so werden können oder auch nur sollten wie Deutschland. Ein Europa der Nationen wäre die bessere Alternative. Die Länder im Süden fand ich mit ihrer sympathischen Art früher schöner als heute. Da keine Währungsabwertungen mehr möglich sind, ist der Druck so groß geworden, dass man uns inzwischen wieder zu hassen begonnen hat. In Frankreich und auf Mallorca habe ich das schon persönlich erlebt. Was den Osten betrifft, darf man nicht vergessen, dass es dort nach der Nazi-Zeit eine zweite Diktatur gab - eine längere und dadurch prägendere. Das hat die Menschen aufs Allerschwerste beschädigt. Es wird mindestens drei, vier Generationen dauern, bis sich Wut, Angst, Hass, Misstrauen und Beziehungsstörungen relativieren.

MM: Auch in den früher so seriösen deutschen Unternehmen und Banken geht es heutzutage drunter und drüber.

Baring: In der Tat erleben wir gerade ein abenteuerliches Scheitern im ganz großen Stil. Werteverfall, Dekadenz und Niedergang sind omnipräsent. Ich denke da etwa an die kalte zynische Personalpolitik bei der Deutschen Bahn, und das Stellwerkschaos rund um Mainz. An Vodafone, an Banken, an Versicherer, an Pharmaunternehmen, Airlines und Krankenhäuser. Der Dienstleistungsgedanke scheint verschwunden. Lediglich der ADAC und Simyo sind mir im letzten Jahr positiv aufgefallen. Ansonsten hängt man nur noch in anonymen Hotlines, hat nur noch mit Anwaltsbriefen Erfolg. Es wird rein kurzfristig und bilanzorientiert gedacht. Ganz anders sieht das in inhabergeführten Unternehmen aus, in denen ich als Coach für Familiennachfolge arbeite.

MM: Welche Ratschläge geben Sie dort?

Baring: Für mich gilt generell: Ratschläge sind Schläge. Ich gehe auf die speziellen Bedingtheiten der Familie ein, die vielschichtig mit ihrem Unternehmen verwoben ist. Ich helfe dabei, sich selber und die anderen klarer zu sehen sowie die Beziehungen im Hinblick auf das vorgegebene Ziel zu ordnen. Jeder Fall ist unterschiedlich, aber ein paar allgemeine Erfahrungen gibt es schon. Viele unterschätzen die Bedeutung der Rangfolge. Wenn zum Beispiel eine Tochter die Firma übernimmt, ist das meist kein Problem. Ehemänner dieser Erbinnen werden allerdings nur dann Erfolg haben, wenn sie deutlich zeigen, dass sie sich in der Rangfolge der bisherigen Mitarbeiter an letzter Stelle sehen. Auch und besonders dann, wenn sie mit einer Führungsaufgabe betraut werden. Eine Regel ist auch, dass ein zweiköpfiges Führungsteam oft gut funktioniert, ein dreiköpfiges dagegen nicht, während vier, fünf Personen wiederum eine gute Konstellation sind. Bei Fusionen gilt, dass ein kleineres kein größeres Unternehmen schlucken kann. Siehe DaimlerChrysler, was zudem auch noch den amerikanischen Nationalstolz verletzt hat. Diese Pleite war vorhersehbar.

Die Fragen stellte Michael Maier.