TW
0

Steile Felsküsten, unberührte Natur, kristallklare Stauseen und atemberaubende Aussichten - wenn in Zeitschriften und Reiseprospekten von dem "neuen", dem "anderen" Mallorca abseits vom Ballermann die Rede ist, dann wird in der Regel die Tramuntana beschrieben, oder, um genau zu sein: die Gemeinde Escorca. Auch, wenn der Name selbst kaum Erwähnung findet. Im Norden grenzt Escorca an Pollença, im Osten an die kleinen Gemeinden Campanet, Selva, Mancor und Alaró, im Süden an Fornalutx und Sóller und im Westen ans Mittelmeer. Die unscheinbare und gleichzeitig spektakuläre Gemeinde ist quasi das Herz des Gebirges. Hier befindet sich der bekannte Strand von Sa Calobra, Mallorcas höchster Berg Puig Major, der Torrent de Pareis, die Seen Cúber und Gorg Blau, das Kloster Lluc.

Ob Wanderer oder Radfahrer, Naturliebhaber, Pilger oder Extremsportler: Die auf der Insel seit Jahren herbeigewünschten "Qualitätstouristen" passieren Escorcas Gemeindegebiet fast zwangsläufig. Escorca, das sind 139 Quadratkilometer Natur, auf denen knapp 240 Menschen wohnhaft sind. 1,7 Einwohner pro Quadratkilometer also. Außerdem rund 15 über die Fläche verstreute Restaurants, eine Tankstelle, 80 Fincas, fünf Ansiedlungen, kein Supermarkt, keine Schule, keine Hotels, keine Arztpraxis, 200 Picknicktische und nichts, was herkömmlich als Dorf- oder Ortskern bezeichnet wird.

Während 50 Kilometer südlich in Palmas In-Vierteln die Mietpreise in die Höhe schießen und sich Saisonarbeiter in den Küstenorten der Insel an der Wohnungssuche die Zähne ausbeißen, während Politiker darüber sinnieren, wie die Saison im Winter verlängert und im Sommer die Überfüllung gehandhabt werden könnte und während die Insel-Jugend unter den temporären Schwankungen des Arbeitsmarkts leidet, scheint in Escorca eine heile Welt vorzuherrschen. Im Winter kommen Mallorquiner von der ganzen Insel zum Grillen und Entspannen, im Frühling die Radfahrer, und die Wanderer ziehen fast ganzjährig durch Escorcas Wälder. Arbeitslosigkeit gibt es in Escorca nicht und Saison ist eigentlich immer.

"Ja, Escorca ist eine untypische Gemeinde", findet auch Antoni Solivellas. Er muss es wissen - seit Jahren ist er Bürgermeister in Escorca. Sein Büro hat er in einem kleinen Gebäude, das an den Vorplatz des Klosters in Lluc angrenzt - der einzigen ortskernähnlichen Stelle in ganz Escorca. Auch die Apotheke ist in dem Gebäude untergebracht. "Wir mussten sie bei uns mit reinnehmen, weil die vom Kloster sie nicht für nötig empfunden haben", sagt Solivellas. Unmut klingt in seiner Stimme mit.

Escorca mag andere Probleme haben als der Rest der Insel, aber Probleme seien es schon, findet Solivellas und bringt es auf den Punkt: "Wir sind im Krieg mit dem Inselrat", sagt er schlicht. Seine Wortwahl klingt härter als der Ausdruck in seiner Stimme, und doch meint der konservative PP-Politiker ernst, was er sagt.

Seit Jahren kämpft er darum, dass in der kleinen Urbanisation Es Guix, rund 1500 Meter von Lluc entfernt, neue Häuser entstehen dürfen. Bereits Ende der 1960er Jahre wurden hier Straßen und 16 Häuser gebaut, Strom- und Wasserleitungen gelegt. Zusammen mit der Cala Tuent, Sa Calobra, Lluc und Son Massip gehörte Es Guix damals zu den 0,5 Prozent von Escorcas Gemeindegebiet, auf denen gebaut werden durfte. "0,5 Prozent ist nicht viel, und mehr haben wir nie gefordert", betont Solivellas.

Und doch waren die Ansiedlungen Naturschützern mit den Jahren ein Dorn im Auge. In den vergangenen Jahrzehnten wurde der Status als Baugebiet in Son Massip infrage gestellt und der Cala Tuent gänzlich abgesprochen. Sprich: weitere Baumaßnahmen - auch im Bereich des als Urbanisation gekennzeichneten Gebiets - verboten.

Ähnliche Nachrichten

Das Gleiche ist nun in Es Guix passiert. Als hier 2006 ein privater Investor mehr als 100 Wohnungen, Garagen und Geschäfte plante, hielt sich Bürgermeister Solivellas neutral, wie er selbst sagt. "Das Projekt war legal. Aber eine Herzensangelegenheit des Rathauses war es in der Form trotzdem nicht." Zwar sei es ihm immer darum gegangen, Es Guix aufzustocken, aber eher im kleinen Stil. "30 zusätzliche Häuser hätten uns gereicht, um die Siedlung ein bisschen voranzubringen", sagt er.

Voranbringen in vielerlei Hinsicht: Mehr Häuser bedeuten mehr Einwohner, mehr Steuerneinnahmen und überhaupt eine Rechtfertigung, das Gemeindegebiet weiter aufrechtzuerhalten. Denn die Einwohnerstatistik in Escorca ist ein weiteres Problem: Mitte der 1960er Jahre waren noch mehr als 600 Menschen in Escorca gemeldet, im Jahr 2000 nur noch knapp 320. Der Abwärtstrend in Richtung 200 hätte durch den Ausbau von Es Guix wohl gestoppt werden können. "Der Ausbau der Urbanisationen würde der Gemeinde guttun", findet Solivellas.

Doch wieder waren Naturschützer zur Stelle und auch Verantwortliche im Kloster Lluc machten mobil gegen das Großbauprojekt - ebenso wie gegen die vom Rathaus favorisierte Miniversion. "Die Proteste kamen fast ausschließlich von Außen", berichtet Solivellas. 95 Prozent der Einheimischen hätten sich bei einer Unterschriftenaktion für die Baugenehmigungen im kleinen Rahmen ausgesprochen. Doch 95 Prozent von aktuell weniger als 240 Leuten machen immer noch nicht genug Druck aus, als dass sie von den übergeordneten Institutionen angehört würden. "Stattdessen haben Fremde über unsere Zukunft entschieden", beschwert sich Solivellas.

Der jahrelange Rechtsstreit endete Anfang des Monats: Der Oberste Gerichtshof Spaniens erkannte auch Es Guix endgültig den Status der "zona urbanística" ab. Außer in Lluc und in kleinen Parzellen von Sa Calobra darf nun in ganz Escorca nicht mehr gebaut werden. "Und in Es Guix wird durch das neue Urteil nun sogar die Instandhaltung der Infrastruktur schwierig. Für jede kleine Maßnahme brauchen wir jetzt eine Genehmigung vom Inselrat", beschwert sich Solivellas. Er will weiter das Gespräch mit der Institution suchen. Seine Hoffnung auf eine schnelle Lösung hält sich jedoch in Grenzen. "Wer in Escorca wohnt, der ist in Geduld geübt, das war schon immer so."

Jeden Tag fährt Solivellas seine Tochter mehr als eine halbe Stunde lang durch die Serpentinen der Bergstraßen zur Schule in Inca. Auch Einkäufe erledigt er dann. "Man darf nicht fahrfaul sein, wenn man hier lebt. Aber für die Ferien haben wir große Gefrierfächer", sagt er und lacht.

Für den großen Notfall ist da auch noch der kleine Kiosk, rund 50 Meter vom Rathaus entfernt. Hier verkauft María Eugenia Sánchez das Nötigste: Eier, Brot, Duschgel, ein bisschen Obst. Hauptsächlich an Touristen, die das Kloster besuchen, aber ab und an kommen auch Einheimische vorbei, so wie Catalina Blascos mit ihrem Mann. Die beiden Mallorquiner wohnen auf einer Finca bei Son Massip. "Der Bau von ein paar mehr Häusern wäre gut für die Gemeinde", findet Blascos. "Sonst verkommt hier doch alles, wenn immer weniger Menschen hier wohnen." Auch Verkäuferin Sánchez stimmt zu. "An den betreffenden Stellen in Es Guix sind doch ohnehin seit Jahrzehnten Straßen gebaut, man würde keine unberührte Natur beschädigen." Sie ist in Lluc geboren, lebt auch hier und kann sich ein Leben woanders auf Mallorca nicht vorstellen. "Viele, die in Escorca arbeiten, würden gerne hier wohnen, aber abgesehen von abgeschiedenen leer stehenden Fincas scheint das nun erstmal nicht mehr möglich zu sein", sagt sie bedauernd.

Ein Beispiel dafür ist Miquel Garau. Der 26-Jährige kellnert in dem Restaurant "Ca'n Gallet" in Es Guix. Jeden Tag fährt er von Caimari zu seiner Arbeitsstelle in den Bergen. "Wenn es ginge, würde ich sofort hierhin ziehen", erzählt er. Auf in die heile Welt. Oder zumindest in eine mit ihren ganz eigenen Problemen. Escorca, das ist nun mal das "andere" Mallorca.

(aus MM 16/2016)