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Es ist eine Szene, die das spanische Wesen in zwei Minuten zusammenfasst: Ein älterer untersetzter Mann mit Brille, Halbglatze und Stock schlurft durch die schmale und pittoreske Fußgängerzone namens Carrer Major von Alcúdia. Er hält inne. Die Besitzerin eines Ladens rasselt ihm lachend folgenden schelmisch-ironisch gemeinten Satz entgegen: „Espero que estés bien, cabrón” („Ich hoffe, es geht dir gut, Schweinehund”). Der Mann lacht zurück, erwidert lächelnd „Cabrona”, also Schweinehündin, und zieht seines Wegs.

Schräg gegenüber von ihm ragt der Turm des Rathauses empor, er wird gerade renoviert. Überall sieht so ziemlich alles gut in Schuss aus in diesem teilweise von einer mittelalterlichen Stadtmauer umrundeten Dorf, an dessen Rand es sogar römische Ruinen, nämlich die Siedlung Pollentia, gibt. Man leistet sich – MM-Emissäre konnten das während eines Rundgangs zur Kenntnis nehmen – sogar den Luxus, die Straßenbeleuchtung am helllichten Tag angeschaltet zu lassen.

Geld dafür ist nach neuesten statistischen Angaben reichlich vorhanden: Die schmucke Gemeinde im Inselnorden beendete das vergangene Jahr mit einem Überschuss von immerhin 97 Millionen Euro. Und dazu verfügt sie auch noch über 99 Millionen Euro auf diversen Bankkonten. Das bedeutet nach Recherchen der MM-Schwesterzeitung „Ultima Hora”, dass mehr als 38 Prozent des für das Jahr vorgesehenen Haushalts unberührt blieben. Das entspricht fast 20 Millionen Euro.

Und so verwundert es nicht, wenn der Dorfkern einer blank gewienerten Puppenstube gleicht, wiewohl dazu – das ist auf einem Schild zu lesen – auch die EU mit Geldspritzen beigetragen hat. Sämtliche Häuserfassaden befinden sich in einem properen Zustand, Graffitis wie im dafür verrufenen Palma sind hier nicht zu sehen. Auch die Metallgeländer an dem Hochgang auf der Stadtmauer glänzen in der Sonne, wenn sie durch die Wolken bricht.

Dass die allgemeine Sauberkeit und überhaupt das schmucke Gesamtbild des Ortes sogar in der recht unwirtlichen Spätwinter-Jahreszeit deutschsprachige Touristen anzieht, ist nahezu ein logischer Vorgang. Sie schwärmen durch die Sträßchen und Gässchen rund um das Tor Porta del Moll, das Pollentia-Museum und die Sant-Jaume-Kirche. An Café-Tischen sitzen die auffallend weißhäutigen Mitteleuropäer nebeneinander und saugen das mediterrane Treiben mit sichtlich gelassenem Gesichtsausdruck in sich auf. Hier fällt ein „Hach, ist das schön”, dort ein „dat Licht ist ja schon frühlingshaft”, weiter entfernt neudeutsch ein „iss ja mega”. Der „Café con leche” scheint den natur- und kulturbeflissenen Gästen denn auch sanft wie Öl über die Zunge zu fließen. Besonders entrückt wirken die Besucher im Restaurant „Satyricon”an der Plaça de la Constitució. Es wurde 2009 in einem ehemaligen Kino eingerichtet, kommt opulent mit römisch-antiken Repliken daher und ist eine dichte mediterrane Packung sondergleichen, die die Gäste sichtlich erfreut.

Das Kapital des 20.000-Einwohner-Kleinods Alcúdia, von dessen Ringmauer aus man sowohl die Bucht von Alcúdia als auch die von Pollença sehen kann, ist seine Geschichte und die damit verbundenen ansehnlichen Bauwerke. Bereits aus vorrömischer Zeit gibt es Zeugnisse, etwa künstlich angelegte Höhlen. Dann, um 70 vor Christus, gründeten die Römer die Siedlung Pollentia. Im Imperium war Mallorca ein Umschlagplatz von Waren. Zwischen 902 und 1229 beherrschten die Araber die Insel, der Name Alcúdia stammt von ihnen und bedeutet schlicht „der Hügel”.

In den Jahrhunderten nach der Eroberung durch den aragonesischen König Jaume I. war Alcúdia ein wichtiges Machtzentrum im Norden Mallorcas. Unter König Carlos I. von Spanien, zugleich der legendäre spätere Habsburger-Kaiser Karl V. des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, wurde Alcúdia 1523 mit den damit verbundenen Privilegien zur Stadt ernannt. Noch heute ziert denn auch der Habsburger Doppeladler das Stadtwappen.

Weil es immer wieder Überfälle durch maurische Piraten gab, wurde die Stadtmauer fast permanent erweitert.

Und so atmet man in Alcúdia förmlich Geschichte auf Schritt und Tritt ein. Wenn man das Örtchen wieder verlässt, ist man erfüllt von einer gelungenen Mischung aus fast italienisch anmutendem mediterranen Flair, Urbanität im Miniaturformat und dem Odem von mehr als 2000 Jahren Vergangenheit. Hinzu kommt eine vernehmbare Prise deftiger spanischer Authentizität, wie sie in den Straßengesprächen der Einwohner immer mal wieder ungeschminkt zum Ausdruck kommt.