Gegen die Schwerkraft fliegen, das ist beim Kiten möglich. | privat

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Jetzt kommt der Spaßteil, sagt Gerhard Dür. Hinten an seinem Neoprenanzug hat er eine dünne Halteschlaufe, an der sich seine Schüler bei den ersten Übungen fürs Kitesurfen im Wasser festhalten können. Der Kite schwebt oben im Himmel, der Wind heute bläst ordentlich. Der Adrenalinpegel steigt.

Daniel von Ledebur und Gerhard Dür sind Kiter mit Leib und Seele. Daniel, der am Telefon wie ein Urbayer klingt, entpuppt sich als Argentinier mit deutschen Wurzeln. Mit zwölf Jahren kam er von Argentiniens Nord-Westen, Cordoba, in den tiefen Süden Deutschlands: nach Ravensburg. Ohne ein Wort Deutsch. Seit 2005 ist er auf Mallorca. Die Kite-Schule im Norden der Insel, bei Alcudia, führt er seit vielen Jahren mit seinem österreichischen Kollegen Gerhard Dür.

Heute ist ein optimaler Kite-Tag. Die App Windguru zeigt rot bis tiefrote Pfeile – starker Wind, der Richtung Land geht. Ablandiger Wind ist gefährlich, weil man als Ungeübter zwar raus kommt, aber auch nicht wieder gut zurück. Aber es gibt auch Tage, wenn kaum ein Lüftchen bläst, an denen man eine Haupttugend der Kiter lernen muss: Geduld. Daniel ist Motivator, Trainer und Mentor in einem. Vor allem ist er überzeugt: Kiten kann jeder lernen. „Mein ältester Schüler war 78 Jahre alt. Nach vier Tagen war der am kiten.“ Er vergleicht den Sport mit dem Snowboarden. „Innerhalb kurzer Zeit kann man es so lernen, dass man selbstständig und sicher wird. Alles andere ist Übung.“

Die bunten Kites liegen überall am Ufer der Pollença-Bucht. Hier ist das Kite-Schulen-Eldorado. Wetter- und sonnengegerbte Surfertypen nutzen die guten Winde. Erfahrenere Kiter flitzen eigenständig über das Wasser. Wenn es mau ist, chillen sie in einer der kleinen Bars direkt in Ufernähe. August und September sind die Topmonate. Im Winter dürfen die Surfer sich freier bewegen, ab Mai gibt es strenge Regeln: Can Pastilla zum Beispiel ist für sie gesperrt, weil es für die Badegäste und Schwimmer zu gefährlich wäre. Am Küstenabschnitt nahe der Albufera haben sie einen Kanal, der von einer der vielen Kiteschulen auf Mallorca zum Unterrichten genutzt wird und der von jedermann kostenfrei als Zugang zum Wasser benutzt werden darf. Bojen zeigen den Schwimmern die Grenze an.

Der Strand ist ebenfalls für die Kiter in einigen Bereichen tabu, weil es Naturschutzgebiet ist. Die Bedingungen in der geschützten Bucht von Alcúdia, direkt am Rande der Albufera, sind gut für diesen Sport. Kiter, gerade Anfänger, brauchen keine starken Wellen. Am besten möglichst lange flaches Wasser, um die Kontrolle des Schirms zu üben. Bei den 24 Meter langen Schnüren reicht mäßiger Wind, um Kraft zu entfalten.

Gerhard Dür ist ebenfalls vom Kite-Virus infiziert. Der Österreicher ist seit 2010 auf Mallorca. Zunächst macht man in den Kite-Stunden am Strand ein paar Trockenübungen, um ein Gefühl für das Handhaben der „Bar“ zu bekommen. Die Stange, über die man den Kite lenkt, heißt Bar, die Bewegung, die man mit ihr ausführt, soll nicht mit Autofahren verwechselt werden. Eher wie beim Boxen, rechter Arm vor, linker Arm vor.

Die Bucht bei Port de Pollença eigent sich optimal fürs Kiten, da das Wasser flach ist und die Wellen klein.

Anfangs sind die Achter-Bahnen, die der Schirm fliegen soll, etwas abgehackt, immer wieder stürzt er ab und landet krachend auf dem Sand. Dann werden die Kreise gleichmäßiger. Gerhard erzählt viel über Windfenster, Windfensterränder und Powerzone, die es zu beachten gilt, um den Kite gut zu lenken. Die Kraft ist beeindruckend. Man muss sich mit den Füßen in den Sand stemmen, um nicht abzuheben.

Nächster Schritt: Den Kite aufpumpen und die Bar mit dem Schirm verbinden. „Man startet am besten zu zweit, einer hält den Kite, der andere die Bar. Wenn der Wind stimmt, den Schirm einfach loslassen, nicht hochwerfen, sonst lässt sich der Kite nicht korrekt steuern.“ Dann: Klamotten aus, Neoprenanzug und Beckengurt, Trapez genannt, an. Der Gurt überträgt später die gesamte Kraft. Sicherheitsgurte festzurren, Ösen schließen. Am Anfang ist die Kitekontrolle das A und O. Das Brett bleibt die ersten Trainingsstunden im Schrank. Kopf in den Nacken, den Kite im Blick, aber gleichzeitig spüren, wo die Kraft herkommt. „Ich schaue beim Fahren nicht mehr nach oben“, sagt Gerhard. Allein durch Erfahrung und Gefühl merkt ein Kiter, woher der Wind kommt und wo der Schirm gerade ist.

Die Windkraft zieht durchs Wasser. „Links, rechts, links, rechts“, ruft Gerhard laut, damit man rechtzeitig die Bar umlenken kann. „Kein Klammeräffchen mit der Bar machen“, ist der ständige Befehl. Das machen die meisten, wenn sie Angst haben, den Schirm zu verlieren. Lieber rechtzeitig gegenlenken. Wenn die Kontrolle über den Kite weg ist, dann ganz loslassen – und die Spannung auf den Schnüren ist raus.

Kitesurfen gilt nicht mehr als starker Risikosport. Dennoch ist er für Verletzungen anfällig. Gerade am Anfang sind Zerrungen im Sprunggelenk häufig, wenn man nicht schnell genug aus den Schlaufen rauskommt. Profis haben eher mit Schulter- und Knieverletzungen zu tun, die bei gewagten Sprüngen entstehen.

Für Daniel ist es mehr als ein Sport. Bei ihm werden Glücksgefühle frei, die er mit einem Rausch vergleicht. Und Angst, es nicht lernen zu können, sollte niemand haben, denn die Botschaft der beiden Kitelehrer lautet: Kiten kann jeder.