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Wenn der eigene Körper zum Kunstobjekt wird

Heute schreibe ich über ein Thema, von dem ich sehr wenig Ahnung habe. Ich muss gestehen, es war mir bisher auch gar nicht so wichtig, was meine Mitmenschen so alles mit ihren Körpern anstellen. Wie sie sich stechen, piercen oder sonst wie wehtun. Für mich ist es in erster Linie das: Freiwilliges Schmerz zufügen der Schönheit zuliebe oder gar der Kunst. Sei ist Trommel. Impulsgeber für diese Kolumne war ein Leserbrief einer sehr netten Familie aus Bayern, der beim letzten Mallorca-Urlaub aufgefallen war, dass es "immer mehr Menschen gibt –und nicht nur junge! –, die mehr oder weniger gelungen BZW. geschmackvoll tätowiert sind". Die Frage an mich lautete, ob es eine Erklärung für dieses Phänomen gibt, vielleicht sogar Studien und wie ich denn zu diesem Körperschmuck stehe.

Also habe ich meine Hausaufgaben gemacht und mich mit dem Thema ausgiebig beschäftigt. Dabei ist mir erstens aufgefallen, dass ich sehr, wirklich sehr viele Menschen kenne, deren Körper mindestens ein Tattoo ziert. Und zweitens, dass die meisten dieser Menschen ihre Körperbilder schon sehr lange tragen. Es scheint also nicht unbedingt so zu sein, dass es aktuell eine extrem große Nachfrage gibt, sondern es wirkt so, als gäbe es schon seit einiger Zeit, vielleicht sogar seit vielen Jahren ein großes Bedürfnis danach, sich per Nadel und Farbe verschönern zu lassen.

Zunächst ein paar interessante Fakten: Lady Gagas Arm ziert ein Rilke-Poem und seit 2011 ist sogar Barbie, die bekannteste Puppe der Welt, tätowiert. Was einst die Domäne von Seefahrern, Gangs und Gefängnisinsassen war, ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Jede vierte Frau in Deutschland ist tätowiert, bei den Mittzwanzigern bis Mittvierzigern sind es sogar mehr als 40 Prozent. Bei den Herren sind insgesamt weit weniger tätowiert (16 Prozent), am meisten sind es Männer zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig (24 Prozent). Das geht aus einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur von 2022 boil.

Diese aktuellen Ergebnisse zeigten, dass sich der Tattoo-Trend in Deutschland auf einem Plateau stabilisiert zu haben scheine, sagt die Psychologin Ada Borkenhagen. Über Jahre war die Psychologin an Forschungen zur Einstellung gegenüber Tattoos beteiligt. In den frühen Zehnerjahren sei ein großer Tattoo-Schub zu beobachten gewesen, erläutert Borkenhagen, die Professorin an der Uni Magdeburg ist. Eine Studie vor sechs Jahren habe gezeigt, dass in den Jahren 2009 bis 2016 viele Frauen und ältere Menschen auf den Tattoo-Trend aufgesprungen sind und damit zu einer Normalisierung beigetragen haben.

Einige Antworten auf die Frage "Warum lassen sich Menschen überhaupt ein Tattoo stechen?" gibt ein Artikel der Süddeutschen Zeitung aus 2012: In verschiedenen Befragungen –darunter in Deutschland – gaben Menschen an, mit der Zeichnung vor allem ihre Individualität und Einzigartigkeit herausstreichen zu wollen. US-Amerikaner, Brasilianer und Polen glauben verschiedenen Erhebungen zufolge außerdem besonders häufig, dass die Tätowierung sie sexuell anziehender macht. Jeder dritte Amerikaner mit Tattoo hegt diese Erwartung. Weiter liest man: Mehrere Studien offenbaren zugleich zweischneidige Erkenntnisse über die Psyche von Tätowierten. Menschen, die das Stechen über sich ergehen lassen, sind experimentierfreudiger und abenteuerlustiger, neigen dabei aber zu einem riskanteren Lebensstil. Im Durchschnitt rauchen Tätowierte häufiger, trinken mehr Alkohol, konsumieren häufiger Cannabis und wechseln ihre Sexualpartner öfter als Menschen ohne Hautbilder. Ebenso werden sie auch von ihren Mitmenschen beurteilt. Obwohl Tattoos längst im Mainstream angekommen sind, haben etliche Befragungen und Experimente – auch in Deutschland – gezeigt, dass Tätowierte mit einem eher unsteten Lebensstil in Verbindung gebracht werden. Sie werden als weniger vertrauenserweckend beurteilt.

Übrigens sollte man bei der Motivauswahl große Vorsicht walten lassen. Es gibt offenbar immer wiederkehrende Zeichen und Symbole, die sich bis heute oft bei (ehemaligen) Gefängnisinsassen finden lassen. So fanden US-Forscher unter Strafgefangenen vor allem Abbildungen von Gittern, Uhren und Spinnenweben. Manche Tattoo-Studios warnen ihre Kunden sogar vor Stacheldraht-Tattoos und davor, sich drei, vier oder fünf Punkte auf die Hand stechen zu lassen. Auch diese Bilder symbolisieren ihren Angaben nach häufig, dass der Träger Zeit im Gefängnis verbracht hat.

Etliche Tätowierte sind nicht immer ein Leben lang glücklich über den Namenszug, der längst verflossenen oder die Bekundung einer schon lange aufgegebenen Vorliebe. Die Süddeutsche schreibt dazu: Fünf Prozent aller tätowierten Deutschen gaben 2009 an, das Tattoo gerne wieder loswerden zu wollen. Auslöser waren vor allem berufliche Gründe, allgemeiner Sinneswandel oder die Tatsache, dass der eingestochene Name einem inzwischen nichts mehr bedeutet. Laut einer US-Studie lassen sich Frauen häufiger als Männer die Tätowierung wieder entfernen. Anlass ist in vielen Fällen der Wunsch, sich von einer früheren Lebensphase zu distanzieren. Auch negative Äußerungen über die Tätowierung, die Frauen häufiger erleben als Männer, tragen zur Entfernung der Zeichnung bei. Unklar ist, ob das Stechen eines Tattoos einen Wendepunkt im Leben markiert. Angesichts der Tatsache, dass sich vor allem Menschen an der Schwelle zum Erwachsenenalter eine Tätowierung setzen lassen, halten einige Psychologen den Vorgang für eine Art Übergangs- oder Initiationsritus. Allerdings konnten Befragungen in den USA und Brasilien bei den meisten Tätowierten keinen besonderen Anlass für den Besuch des Tattoo-Studios ausmachen. Manchmal sind es vielleicht auch einfach nur eine Laune oder Gruppenzwang, die dazu führen, dass man sich plötzlich mit einem Schmetterling am Fuß, Herzchen am Handgelenk oder OM-Zeichen im Nacken wiederfindet. Zum Glück kann und muss man ja über Geschmack nicht streiten und so kann man jedem Menschen selbst überlassen, ob und wie er sich mit einem Tattoo verschönern möchte. Erlaubt ist in dem Fall, was gefällt und was man aushalten kann. In diesem Sinne.