Junge oder Mädchen: Ein Blick auf die Ohren genügt. | Archiv

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"Och, das ist aber ein niedlicher Junge“, ruft die ältere Dame im Supermarkt und grinst in den Kinderwagen. Das Baby lächelt freundlich zurück und gluckst. Beide sind happy. Bis auf die Mutter, die steht daneben und denkt sich: „Es ist aber ein Mädchen.“ Auf den ersten Blick das Geschlecht bei Säuglingen zu bestimmen – wenn diese Kleidung tragen – ist fast unmöglich.

Also haben sich gesellschaftliche Normen etabliert, welche die Geschlechterbestimmung ermöglichen. Ja, noch in Zeiten des dritten Geschlechts und geschlechtsneutraler Toiletten, haben doch 99,9 Prozent von uns den Drang, das Gegenüber als weiblich oder männlich zu identifizieren. Also werden Babys entweder in Rosa oder in Blau gekleidet.

Neutrale Kleidung – in Grün oder Gelb beispielsweise – zu bekommen, ist gerade für Neugeborene auf Mallorca extrem schwierig. Manchmal gibt es noch Weiß oder Grau zur Auswahl. „Damit kann man schon ein Geschenk machen, wenn die Eltern das Geschlecht noch nicht wissen“, verrät eine Verkäuferin eines großen Warenhauses in Palma. Auf die Idee, dass man einem Mädchen nicht nur Rosé-Töne anziehen will, kommt niemand?

Aber selbst, wenn das Baby komplett in Rosa gekleidet ist (auch die Socken), zögern Unbekannte kurz und sagen dann: „Es ist ein Mädchen, richtig?“ An Tagen mit schlechter Stimmung ist frau wirklich geneigt, ihrem Gegenüber zu erklären, dass Rosa das kleine Rot ist und vor über hundert Jahren von Prinzen getragen wurde. Um dann hinterherzu-geifern: „Ja, natürlich ist sie ein Mädchen, sieht man doch!“ Aber frau unterlässt diese Reaktion aus Höflichkeit dann doch.

Doch die Mallorquiner haben noch ein anderes Merkmal, um bei Babys zu erkennen, ob Junge oder Mädchen. Ein tertiäres Geschlechtsmerkmal sozusagen.

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Die Nachbarin steht stolz am Zaun und zeigt ihren vier Wochen alten Nachwuchs her. In der Sonne ist das Glitzern nicht zu übersehen. Der Säugling trägt bereits Ohrstecker, Gold mit einem Edelsteinchen. „Habe ich heute stechen lassen“, sagt sie und schaut beseelt auf das Mädchen in ihrem Arm.

Trägt ein Kind keinen Ohrschmuck, dann ist es ein Junge. So einfach ist das! Früher war es sogar möglich, die Löcher gleich noch im Krankenhaus auf der Wöchnerinnenstation stechen zu lassen. Mittlerweile müssen sich frisch gebackene Eltern in eine Apotheke bemühen, um dort die Ohren ihrer Säuglinge „verzieren“ zu lassen.

Für die einen ist allein der Gedanke, dem eigenen Säugling zwei Metallbolzen durch die Mini-Ohrläppchen schießen zu lassen, schon schwer zu ertragen. Doch für andere fallen die Babyohrstecker wie Taufketten und Taufringe einfach in die Kategorie Kinderschmuck – das ist eben Tradition. Genau wie die Sitte, Säuglinge hierzulande mit Babyparfüm einzudieseln.

Wer seinem Mädchen also keine Ohrstecker zumuten möchte, wird weiterhin auf Mallorca mit „Was ein niedlicher Junge“ umgehen müssen. Welches die besser zu ertragende Alternative ist, müssen Eltern selbst entscheiden. Und spätestens in der Vorschule werden die kleinen „Chicas“ ihrem Wunsch nach Ohrringen schon Ausdruck verleihen.

(aus MM 23/2019)