Vicente Galaso geht in seiner Arbeit voll auf. | Privat

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Die Plastik-Pillendose, die der Psychologe Vicente Galaso auf den Tisch fallen lässt, klappert lautstark beim Auftreffen auf die Holzoberfläche. „Das sind die Medikamente, die unsere Besucher mit Schizophrenie im Durchschnitt in einer Woche zu sich nehmen müssen”, erklärt er nicht ohne eine gewisse Abscheu gegenüber dieser Präparate-Vielfalt in den Augen. Das Gefäß ist unterteilt in sieben Wochentage mit jeweils drei Tagesabschnitten. In jeder der 21 Kammern befinden sich wiederum mindestens fünf Tabletten jedweder Couleur. Unsere Gesellschaft sei, besonders bei geistigen Störungen und Geisteskrankheiten, fast immer darauf ausgerichtet, Medikamente als das ultimative Heilmittel zu betrachten. Natürlich, erklärt der 55-Jährige, seien Psychopharmaka nicht per se zu verteufeln, sie hätten durchaus ihre Berechtigung, aber wären gleichzeitig auch nicht der Weisheit letzter Schluss.

Als Präsident der „Associació la Nostra Veu”, was übersetzt so viel wie „Verein unsere Stimme” bedeutet, verfolgt Galaso andere Ansätze. Mit dem Kopf in Richtung eines großen Banners an der Wand nickend, erklärt er: „Das da drüben ist unser Motto.” Auf weißem Hintergrund sind die Umrisse der balearischen Inseln umrahmt von den in großen roten Buchstaben geschriebenen katalanischen Worten „Orgull Boig” zu lesen. „Das bedeutet verrückt und stolz darauf”, erklärt Galaso. Jeder der im Schnitt 17 Besucher der Einrichtung sei einfach so viel mehr als nur seine Diagnose. „Wir versuchen hier einen sicheren Ort zu bieten, an dem sich die Männer und Frauen mithilfe des künstlerischen Ausdruckes selbst begegnen und noch einmal ganz neu entdecken können.”

Dabei sei es egal, ob man Singen, Tanzen, Töpfern, Fotografieren oder Gitarre spielen möchte. Erlaubt sei, was gefällt. Die Kunst könne dabei helfen, sich zu öffnen und der eigenen mentalen Krankheit eine Stimme zu geben. Gäste von „Nostra Veu” könne man zumeist in zwei Kategorien einordnen. „Neurosen, also Angststörungen, und Depressionen sind am häufigsten, direkt gefolgt von Psychosen wie zum Beispiel bipolaren Störungen und Schizophrenie.” Gonzalo Vázquez lebt beispielsweise seit über 28 Jahren mit einer Angststörung und Panikattacken. „Das hier ist mein zweites Zuhause. Ich bin durch die Menschen hier selbst zu einem besseren Menschen geworden und habe auch gelernt, besser mit meinen Symptomen umzugehen. Deshalb bin ich auch so dankbar, dass es diesen Ort gibt.”

Finanziert wird „La Nostra Veu” ausschließlich durch Spendengelder. Im Monat müsse man rund 1000 Euro aufbringen, um wenigstens die wichtigsten Kosten decken zu können. Alle Helferinnen und Helfer verrichten ihr Tagewerk in der Associació unentgeltlich. Auch das Amt des Präsidenten sei selbstverständlich ein Ehrenamt, sagt Galaso. „Deswegen kann ich auch leider nur am Vormittag hier sein. Irgendwie muss ich ja nebenbei auch meinen Lebensunterhalt bestreiten.”

Seit mehr als 30 Jahren arbeitet der Mann aus Madrid bereits als Psychologe. Seit sieben Jahren hier auf Mallorca. „Ich liebe den Menschen und seine Seele. Ich versuche stets herauszufinden, was in unseren Besuchern steckt. Das Erste, was wir hier machen, ist, die Leute zu fragen, wie sie sich selbst sehen und was sie von ihrer Geschichte mit uns teilen möchten.” Das sei ein komplett anderer Ansatz als jener der schulmedizinischen Psychologie. „Psychologen glauben, meist bereits alles nötige zu wissen, um einen Patienten einschätzen zu können, nur um ihm anschließend zu sagen, wer er ist. Wir machen das genau andersherum.” Niemand, der nicht ebenfalls so leide wie die Menschen hier, wisse, was wirklich in ihnen vorgehe. Niemand kenne sie schließlich besser als sie sich selbst.

Zusätzlich kämpfe man stets gegen die gängigen Vorurteile gegenüber psychisch kranken Menschen. „Besonders bei Schizophrenie glauben viele, dass diese Leute gefährlich für ihre Umwelt sind. Studien zeigen aber, dass sie in den allermeisten Fällen nur eine Gefahr für sich selbst darstellen.” Das sei nur eines der vielen Vorurteile, die er bekämpfe.

Als eine Art Sprachrohr hin zur Gesellschaft diene auch hier die Kunst. Gemeinsam mit Studenten einer Universität habe man beispielsweise das Buch „Monster” geschrieben. Geschichten über die eigenen inneren Monster, die sich bei den Studenten und ihren psychisch kranken Co-Autoren zumeist lediglich in Intensität, Umgang und Häufigkeit unterschieden hätten. „Wir alle haben psychische Probleme. Manche können damit nur besser umgehen als andere.”

Die moderne Gesellschaft habe nach Galasos Einschätzung enorm dazu beigetragen, dass diese Probleme besonders bei jungen Leuten immer häufiger auftreten würden.

Für das Jahr 2024 arbeiten die Besucher von La Nostra Veu bereits an einem neuen Kunstprojekt. „Wir werden das Buch in ein Bühnenstück verwandeln und in verschiedenen Theatern und Schulen der Insel aufführen.” Auch hier solle es so sein, dass Akteure und Zuschauer gemeinsam ihren Monstern begegnen, diesen ein Gesicht geben, um sich ihnen so künftig besser entgegenstellen zu können.