Coach Miriam Völling (2.v.r.) organisiert in dem Yoga-Raum die Aufstellung einzelner Teilnehmer. | Mirja Helms

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Ein intensiver Blick, rot unterlaufene Augen, die Körperhaltung ist angespannt und dann sagt Michael: „Du fehlst mir so sehr.” Kaum ausgesprochen, fallen sich beide weinend in die Arme. „Was ist da gerade passiert?”, fragt der Mittvierziger kurz darauf erschrocken in die Gruppe, während er Isabell – eine ihm völlig unbekannte Frau – noch immer zärtlich und vertraut in den Armen hält.

Die Fremde steht ihm stellvertretend für seine Ehefrau gegenüber, und obwohl sie diesem Mann noch nie begegnet ist, umarmt sie ihn innig, schluchzt und ringt um Fassung. Eine Welle der Emotionen fließt durch den Raum, auch die anderen neun Teilnehmer, die im Stuhlkreis sitzend die Vorstellung aufmerksam beobachtet haben, sind sichtlich ergriffen, fangen Tränen mit Taschentüchern auf. Was ist da gerade passiert? Gute Frage.

Elf sich fremde Teilnehmer, sieben Frauen, vier Männer sowie eine Aufstellungsleiterin sitzen in einem mit Kissen und Kerzen dekorierten, privaten Yogaraum in Puerto Portals. Vier von ihnen haben etwas mitgebracht: Ungelöste Probleme. Die anderen Teilnehmer werden im Laufe des Vormittags zu aktiven Stellvertretern und nehmen die Rolle des gefühllosen Vaters, der strengen Mutter oder der unbeachteten Sexualität ein. Was die Statisten in diesem Moment empfinden, was sie sagen und wie sie handeln, all das soll stellvertretend für die nicht anwesenden Akteure gedeutet werden und Hinweise geben auf verdrängte, unausgesprochene Gefühle. Einigen Teilnehmern sieht man deutlich an, dass sie das nicht zum ersten Mal machen. Andere zeigen sich hingegen skeptisch, rutschen nervös auf den Stühlen hin und her. Einer von ihnen ist Michael.

Der Halbspanier aus Costa de la Calma hat sich bei Miriam Völling für eine Familienaufstellung angemeldet, weil er die Probleme in seiner Ehe nicht alleine lösen kann. Er will der Sache auf den Grund gehen, reflektieren, eine Entscheidung treffen und–im besten Fall–das Problem lösen. Freunde haben ihm geraten, eine Familienaufstellung auszuprobieren. Man habe ja schließlich nichts zu verlieren. Außer vielleicht 130 Euro, die eine Teilnahme mit eigener Aufstellung kostet. Wie die meisten hat Michael dann einfach mal gegoogelt und ist bei Miriam Völling und ihrer Firma „Familienaufstellungen Mallorca” gelandet. Die Vita des ausgebildeten Coaches weckt Vertrauen: Ausbildungsstätte der gebürtigen Wuppertalerin, die seit 15 Jahren auf Mallorca lebt, ist die Hellinger-Schule in Deutschland. Seitdem hat Völling zahlreiche fachübergreifende Seminare und Schulungen besucht. Heute bietet sie Familienaufstellungen an, Einzelcoachings und ein rundum Premium-Programm. Auf Mallorca.

Dabei müsste man meinen, dass gerade auf der Sonneninsel, der Dopaminfabrik schlechthin, doch kaum genügend Kundschaft für ein solches Business zu finden sein dürfte. Im Gegenteil, sagt Völling: „Meiner Meinung nach sind die meisten Deutschen nicht wegen des schönen Wetters hier. Sie laufen vor etwas davon, vor scheinbar unlösbaren Problemen.” Im Vergleich zu Deutschland würden auch wesentlich mehr Paare mit aller Kraft versuchen, die Beziehung zu retten: „Das liegt bei vielen auch am gemeinsamen Geschäft oder einfach an der Angst davor, sich alleine im fremden Land durchschlagen zu müssen.”

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Zurück zu Michael. Bevor seine Aufstellung beginnt, fasst er in wenigen Sätzen die schwierige Situation zusammen: Seine Frau hat sich nach zehn Jahren getrennt, sie führen ein gemeinsames Geschäft. Scheidung kommt nicht infrage. Sie arbeitet sehr viel. Mehr erfährt man heute nicht. Miriam Völling postiert daraufhin Personen stellvertretend für ihn und andere in diesem Zusammenhang relevante Menschen in der Mitte des Raumes. Auch Emotionen, Ereignisse oder Wünsche nehmen menschliche Gestalt an. Was nun geschieht, ist für Außenstehende schwer nachvollziehbar: Die Stellvertreter werden aufgefordert, sich nach eigenem Empfinden neu zu positionieren. Sie entfernen sich voneinander, wenden die Blicke ab und beschreiben, was sie dabei fühlen. Isabell, die stellvertretend die Rolle der Noch-Ehefrau von Michael eingenommen hat, geht einige Schritte zurück: „Ich fühle mich in deiner Gegenwart nicht wohl”, sagt die fremde Frau.

„Wir befinden uns hier in einem morphogenetischen Feld, das heißt, in einem Bereich, in dem Raum und Zeit keine Rolle spielen. Die Stellvertreter nehmen in überraschend präziser Form Wissen, Emotionen und körperliche Empfindungen der Person an, die sie vertreten”, erklärt Coach Völling. Hin und wieder nutzt sie auch den Begriff „Wirklichkeitsaufstellung”, weil, wie sie sagt, „die Wirklichkeit gezeigt wird und nicht das, was wir glauben”. Außerdem wird diese Methode der systemischen Psychotherapie nicht nur bei Beziehungsproblemen oder Ärger mit den Eltern angewandt. Das Gefühl von innerer Leere, chronische Krankheiten, Unentschlossenheit bei wichtigen Entscheidungen, Stress mit dem Chef–beinahe jede persönliche Krise kann thematisiert werden. Aber eben nur beinahe–(starke) psychische Erkrankungen beispielsweise werden nach einer Aufstellung nicht verschwinden und sollten unbedingt ärztlich behandelt werden. Ein Vor- oder Nachgespräch findet bei der 43-Jährigen nicht statt, außer der Teilnehmer bucht dies dazu. So sieht es die klassische Familienaufstellung nach Begründer Bert Hellinger vor. Seine Lehre beruht auf der Grundannahme, dass Familienmitglieder auch über den Tod hinaus emotional miteinander verbunden sind und viele Probleme weniger in der Gegenwart als in der Familienhistorie begraben liegen. Auch bereits verstorbene oder ungeborene Menschen können Teil einer Aufstellung sein, schließlich ginge es darum, das Problem auseinanderzunehmen, Hintergründe zu erfahren. Und dabei spiele auch immer die Vergangenheit eine entscheidende Rolle. Ahnen, was die Ahnen erlebt haben.

Völling hat direkt bei Hellinger gelernt. Seine Methode wurde aufgrund der ansatzweise empirisch belegten Wirkung 2008 vom Psychotherapie-Beirat der Bundesärztekammer anerkannt, gleichzeitig lehnen andere Organisationen und Vereine die klassische Familienaufstellung strikt ab. Die Liste der Kritikpunkte ist lang: Fehlende umfassende Diagnostik, unzureichend ausgebildete Aufsteller, keine Nachbereitung, fehlender therapeutischer Prozess. Auch viele Anwender haben sich von Hellinger distanziert und die Familienaufstellung weiterentwickelt. Nach wie vor gibt es aber noch sehr viele Befürworter, wie Fabienne D.. Die 42-Jährige hat ihre erste Familienaufstellung vor zehn Jahren gemacht und war rasch beeindruckt: „Mir hat das damals gleich ganz viel Klarheit gebracht und sofort bei der Lösung meines Problems geholfen”, so die Düsseldorferin. An diesem Samstagmittag ist sie, wie neun weitere Teilnehmer, nur Stellvertreterin, dafür hat sie 25 Euro bezahlt. „Ich bin hier, weil ich das einfach sehr spannend finde und weil ich auch als Stellvertreterin jedes Mal neue Erkenntnisse mitnehme.”

70 Minuten lang schauen alle auf Michael und dessen Eheprobleme. Völling hakt nach, schiebt die Teilnehmer hin und her und bittet Michael schließlich selbst, sich in die Mitte des Raumes zu bewegen. Zum Abschluss spricht er dem Coach Sätze nach, die wie Beschwörungsformeln klingen: „Ich werde dich und deine Arbeit mehr schätzen und anerkennen. Ich werde dir den Freiraum geben, den du benötigst.” Schließlich soll er selbst etwas zu seiner Frau sagen. Er überlegt nicht lange: „Du fehlst mir so sehr.” Obwohl der Resident auch am Ende der Veranstaltung noch nicht so richtig begriffen hat, was da genau passiert ist, wirkt er erleichtert, beinahe glücklich. Die Gedanken, Gefühle und Sätze soll er mit nach Hause nehmen, erst beim nächsten Gespräch mit seiner Frau wieder auspacken und, wenn möglich, anwenden.

Nach rund fünf Stunden ist alles vorbei. Die Teilnehmer verabschieden sich seltsam vertraut, gehen mit gemischten Gefühlen getrennte Wege. Haben die Familienaufstellungen etwas gebracht? Die Last-Minute-Problemlösung war es wohl kaum, das „Aha-Erlebnis” ganz bestimmt. Andere Sichtweisen ausprobieren, Lösungsideen entwickeln, das Leben aus einem neuen Blickwinkel betrachten, das kann eine Familienaufstellung ganz bestimmt–wenn man das denn möchte.

(aus MM 5/2020)