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Der Erzherzog Ludwig Salvator wollte seinen Augen kaum trauen. An der Küste direkt unterhalb seines Landsitzes Son Marroig bei Deiá spielte sich des Nachts immer wieder die gleiche Szene ab: In der Finsternis näherte sich ein Schiff, das in einigem Abstand zum Ufer vor Anker ging, woraufhin sich von Land einige Boote aufmachten, für eine Weile neben dem Schiff zum Liegen kamen und anschließend wieder ans Ufer zurückkehrten. Der Erzherzog wurde aus nächster Nähe Zeuge des Schmuggels, der jahrhundertelang zu Mallorca gehörte wie Fischerei und Landwirtschaft.

Den Erzherzog, der das nächtliche Treiben an der Küste offenbar mit Staunen verfolgte, wunderte laut Überlieferung vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der die Inselbewohner den Schmuggel tolerierten. Selbst rechtschaffene Leute, die nie und nimmer auf die Idee gekommen wären, fremder Leute Eigentum auch nur anzurühren, hatten offenbar keinerlei Schwierigkeiten, diese Art des Broterwerbs gutzuheißen.

„Die Akzeptanz des Schmuggels als legitimes Mittel zur Existenzsicherung war hier immer groß”, sagt Dr. Pere Ferrer, Historiker, Buchautor und Experte für diesen Aspekt der mallorquinischen Geschichte. „Der Grund dafür ist, dass so viele Menschen auf der Insel von ihm profitiert haben.” Am intensivsten war die Schmugglertätigkeit vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zu den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Bis zu 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes habe sie auf Mallorca ausgemacht, hätten neue Studien ergeben, sagt Ferrer.

Besonders in der Zeit nach dem Spanischen Bürgerkrieg und nach dem Zweiten Weltkrieg habe der Schmuggel auf Mallorca enorme Bedeutung gehabt. Die Alliierten übten großen Druck auf Franco-Spanien aus, um einen Kriegseintritt auf Seiten der Achsenmächte zu verhindern. Dazu gehörte eine Blockadepolitik, die den freien Warenverkehr verhinderte. In der Folge wurden in vielen Gegenden Spaniens selbst Grundnahrungsmittel knapp. Brot, Öl, Zucker, Reis und andere Produkte des täglichen Bedarfs gab es nur noch gegen staatlich ausgegebene Marken. Auf Mallorca herrschte Not. „Das begünstigte natürlich den Schmuggel”, sagt Ferrer – und die Entstehung eines blühenden Schwarzmarkthandels.

Pere Ferrer hat die Daten öffentlicher Versteigerungen des Finanzamtes in jenen Jahren ausgewertet, bei denen konfisziertes Schmuggelgut unter den Hammer kam. Waren es zunächst noch häufig Grundnahrungsmittel wie Mehl und Zucker oder auch Medikamente wie Penizillin, die auf illegale Weise auf die Insel kamen, sowie Dinge des täglichen Gebrauchs (zum Beispiel Fahrräder), verlegten sich die Schmuggler dann auf andere Waren. Je weiter der wirtschaftliche Aufschwung in den 50er Jahren fortschritt, desto gefragter wurden auch Luxusartikel, in erster Linie in der aufkommenden Tourismusbranche: Kaviar, Champagner, französischer Wein und Whisky, aber auch Fernseher, Radios und sogar Autos. Auch ins Land geschmuggelte Präservative tauchen auf den Listen der versteigerten Güter auf.

Das über die Jahrhunderte bedeutendste Schmuggelgut war auf Mallorca jedoch – wie fast überall – der Tabak. Bereits im frühen 18. Jahrhundert existierte in Spanien ein staatliches Monopol auf den Verkauf von Rauchwaren – die bis heute existierenden Tabakläden („estancos”) haben dort ihren Ursprung, erklärt Ferrer. Die Krone verdiente nicht schlecht an der Steuer, die die Raucher zahlen mussten. Da die Ware jedoch teuer und obendrein von schlechter Qualität war, ließen sich mit geschmuggelten Zigaretten gute Geschäfte machen. Sogar wer selbst nicht rauchte, nutzte den Tabak auf dem Schwarzmarkt als Tauschmittel.

Die Ursprünge des Schmuggels auf Mallorca reichen weit zurück. „Seit es Grenzen gibt und Steuern erhoben werden, gibt es Schmuggel”, sagt Ferrer. Dazu kommt, dass Mallorca seit jeher ein Ort des Handels ist. Schon Phönizier und Römer nutzten die Insel als bedeutenden Standort im westlichen Mittelmeer. Überfahrten nicht nur zum europäischen Festland gehören seit Jahrhunderten zum Inseldasein – auch Nordafrika ist stets ein wichtiger Handelspartner gewesen. Und so verwundert es nicht, dass Mallorquiner, die im Besitz eines Bootes waren, hin und wieder eine Fahrt nach Algier unternahmen, um sich etwas dazuzuverdienen.

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Ein ideales Terrain, um die Ware heimlich an Land zu bringen, war vor allem das Tramuntanagebirge mit seinen mehr als 100 Kilometern Küste, seinen schwer zugänglichen Buchten, den endlosen Steinwüsten und unzähligen Höhlen. Aber auch in anderen Gegenden der Insel blühte diese Art des Handels: an der Südküste von Llucmajor bis Campos, in den Buchten von Santanyí, bis hinauf in den Norden nach Alcúdia. Bis heute zeugen die Namen vieler Orte von dieser Vergangenheit. In Escorca gibt es einen „Schmuggel-Pass” (Pas des Contraban), an der Küste von Llucmajor die „Mehl-Höhle” (Cova de sa Farina), in Santanyí die „Boot-Höhle” (Cova de sa Llanxa), wie der Hobbyforscher Tomás Mut in seinem Buch über den Schmuggel auf Mallorca schreibt.

Auch der Name Can Pastilla könnte hier seinen Ursprung haben. Denn das erste Gebäude, das dort stand, wo sich heute ein ganzer Stadtteil befindet, war eine Taverne, deren Besitzer offenbar nebenbei illegal eingeführten Tabak verkaufte. Dieser war damals in der Regel zu kleinen Paketen gepresst – sogenannten „pastillas”. Das eindrucksvollste Zeugnis aber ist ohne Zweifel das verlassene Polizei-Quartier (Cuarter de Carabiners) in den Bergen von Escorca. Die Idee für den Bau entstand, um von hier aus den Schmuggel endlich effektiv bekämpfen zu können.

Über die Jahrhunderte hatte sich ein gut funktionierendes System entwickelt, das vor allem auf der Verschwiegenheit aller Beteiligten basierte. Auch Forscher Pere Ferrer hatte lange Schwierigkeiten, das Vertrauen von Zeitzeugen zu gewinnen und diese zum Erzählen zu bewegen. Ferrer vergleicht Mallorcas Schmuggler in dieser Hinsicht mit der italienischen Mafia – auch hier galt: Wer redete, bezahlte dafür mit dem Tod. Nicht selten verschwand ein solcher „Verräter” für immer spurlos oder es gab merkwürdige „Unfälle”.

Das Vorgehen der Schmugglerbanden war stets dasselbe: Meist bei Nacht landete das Boot mit der Ware an einem vorher verabredeten Ort der Küste. Dort warteten dann die Träger, die die Pakete schulterten und zunächst in einem Versteck deponierten, einem sogenannten „secret” (Geheimnis). Dabei konnte es sich um eine schwer zugängliche Höhle handeln, um ein eigens in den Fels gehauenes Loch, aber auch um eine doppelte Wand in einem Wohnhaus. Später wurde das Schmuggelgut dann abgeholt und zum Weiterverkauf in Bars oder sonstigen Geschäften verteilt. Lange Zeit war der Passeig des Born in Palma das Zentrum des mallorquinischen Schwarzhandels. Oft waren es Frauen, die die Ware unter ihren langen Röcken versteckten und unter das Volk brachten.

Seine größte Bedeutung erlangte der Schmuggel auf Mallorca im 20. Jahrhundert. Dieser Aufschwung ist vor allem mit einem Namen verbunden: Joan March, der „größte Schmuggler der Welt”, wie Pere Ferrer ihn nennt. Der mallorquinische Unternehmer machte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Vermögen, indem er Waren an der staatlichen Kontrolle vorbei importierte. March besaß ausgedehnte Ländereien an Mallorcas Küste, eine Reederei (Trasmediterránea) und eine Tabakfabrik in Oran – beste Voraussetzungen also.

Joan March aber war bei Weitem nicht der Einzige, der mit dem Schmuggel reich wurde. „Es gibt viele Leute auf Mallorca, die auf diese Weise sehr, sehr reich geworden sind”, sagt Ferrer. Das Problem vieler Schmuggler war, dass sie ihren Wohlstand auf gar keinen Fall zeigen konnten. Nach außen hin mussten sie den Eindruck größter Sparsamkeit wahren. Ein bedeutender Teil des durch die illegalen Geschäfte aufgehäuften Reichtums landete übrigens ab den 60er Jahren in der aufkommenden Tourismusbranche: Viele ehemalige Schmuggler hätten sich fortan dem Geschäft mit den Urlaubern gewidmet, sagt Ferrer.

Dass der illegale Warenimport auf Mallorca über so viele Jahre eine herausragende Rolle spielen konnte, lag auch daran, dass die Behörden nicht immer mit aller Härte dagegen vorgingen. In der Nachkriegszeit etwa war dem franquistischen Regime durchaus daran gelegen, dass die Versorgungsengpässe nicht zu Unmut in der Bevölkerung führten, sagt Ferrer: „Man hat den Schmuggel damals weitgehend toleriert, um Revolten zu verhindern.” Ein Übriges taten die Schmiergeldzahlungen, mit denen die Polizisten dazu gebracht wurden, ein Auge zuzudrücken. So profitierte vom Schmuggel ein breiter Teil der mallorquinischen Gesellschaft. Entsprechend gering war das Unrechtsbewusstsein – wie Erzherzog Ludwig Salvator schon Ende des 19. Jahrhunderts richtigerweise feststellte.

(aus MM 52/2018)