Kunstexpertin Ingrid Flohr hat das Kulturprojekt angeregt. | Martin Breuninger

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Etwas ist dieser Tage anders in Santanyí. Ein Hauch von Poesie weht durch den Ort. "Es gibt keine Fremden, nur Freunde, die Du noch nicht getroffen hast", steht ein Aphorismus des Dalai Lama in weißer Schrift auf der gläsernen Eingangstür einer Immobilienagentur. "En un beso sabrás todo lo que callado" (In einem Kuss wirst du alles wissen, was ich verschwiegen habe): Dieser Vers von Pablo Neruda zieht sich in derselben Schrift und ebenfalls in Weiß über die Schaufensterscheibe eines Bekleidungsgeschäfts. Der Inhaber eines Schuhladens hat sich für ein knappes geflügeltes Wort von Johann Wolfgang von Goethe entschieden: "Reisen bildet."

Gut 30 Geschäfte haben sich seit Anfang Dezember diesem literarischen Kunstprojekt angeschlossen. Dessen Initiatorin ist Ingrid Flohr. Die deutsche Ex-Galeristin vermittelt Kunst, veranstaltet Galerieführungen und Kunstprojekte, ist in Santanyí Repräsentantin von Nora Braun, die den Nachlass des Bildhauers Rolf Schaffner verwaltet. "Winter und Weihnachten sind eine Zeit des Nachdenkens. Dazu wollte ich auf positive Weise anregen", erklärt sie den Ausgangspunkt ihr Ansinnen, Poesie und Philosophie in die Straßen ihrer Wahlheimat zu bringen.

Flohr spricht von einem solidarischen Projekt, in dem Sinne, dass sich möglichst viele Geschäftsinhaber an der Aktion beteiligen. In vier Sprachen – Katalanisch, Spanisch, Englisch und Deutsch – können sie von Flohr Zitate ihrer Wahl aufs Fenster- oder Türglas auftragen lassen. Und da nicht jeder eigene Ideen hat, bietet die findige Kulturmanagerin einen ganzen Katalog an Sinnsprüchen an, die sie selbst zusammengestellt hat, von Konfuzius über Shakespeare bis zu Camargo.

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Bis zum Dreikönigstag am 6. Januar soll dieses Projekt dauern. Bei manchen Gewerbetreibenden rannte Flohr offene Türen ein, andere zeigten sich anfangs reserviert oder wollten nur ihre eigene Dekoration im Schaufenster haben – um sich nach etwas Nachdenken dann doch einzuklinken. Mittlerweile werde sie sogar von Ladenbesitzern darauf aufmerksam gemacht, dass sie noch nicht bei ihnen gewesen sei, erzählt Flohr.

Tatsächlich sei diese Aktion auch eine Werbung, weil manche Passanten in die Geschäfte gingen, um über den Sinn der Aufschriften nachzufragen. Allerdings handelt es sich um eine subtile Werbung, und nicht zuletzt auch für Santanyí: "Ich wollte keine zehn Meter hohe Werbetafeln, wie man sie an den Ausfallstraßen von Palma sieht, sondern etwas Kleines und Feines", betont Flohr.

Auf die Idee mit den Zitaten hatte sie ein Besuch in der bayerischen Stadt Freising gebracht. Dort veranstaltete diesen Herbst der örtliche Kulturverein "Modern Studio" anlässlich seines 45-jährigen Bestehens die Aktion "Freising liest! Schau! Fenster!" Diese Idee nahm Flohr nach Mallorca mit. Und so könnte sie das Zitat von Goethe durchaus erweitern: Reisen bildet – und inspiriert!

(aus MM 51/2016)