Die Siurells kamen erst im 19. Jahrhundert nach Mallorca – und fanden damals kaum Beachtung. | Patricia Lozano

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Wo immer auf Mallorca traditionelle Töpferware in Schaufenstern ausgestellt oder zu Markte getragen wird, sind die Siurells dabei. Die weißen Tonfiguren mit ihren roten, grünen, mitunter auch blauen und gelben Streifen gelten als Inbegriff uralter mallorquinischer Kultur. Ihr Name leitet sich von dem mallorquinischen Wort „siular”, pfeifen, ab, denn die Figuren sind mit einer Pfeife versehen.

Nach bisheriger Lesart liegen die Ursprünge des Siurell in der fernen Vergangenheit. Manche Historiker verweisen auf Beziehungen zur minoischen Kultur, andere vermuten die Wurzeln bei den alten Etruskern oder im arabischen Raum, von wo ihn die Phönizier nach Mallorca gebracht haben sollen. Stimmt alles gar nicht, sagen nun die Musikwissenschaftler Amadeu Corbera und Carme Sánchez sowie die Kunsthistorikerin Laura Luque. Noch in diesem Jahr werden sie ein Buch veröffentlichen, in dem sie vieles von dem über den Haufen werfen, was man über den Siurell bislang vermutete oder zu wissen glaubte.

2020 begannen die drei Wissenschaftler, die Figur des Siurell zu erforschen. Die Ergebnisse brachten sie zu der Hypothese, dass dessen Geschichte auf der Insel viel jünger ist als gedacht. „Auf Mallorca gibt es keine archäologischen Funde, die die bisherige Erzählung bestätigen würde. Die ersten Siurells tauchen ungefähr zwischen 1860 und 1880 auf, das erste schriftliche Zeugnis stammt von 1880”, sagt Amadeu Corbera, der auch Vorsitzender der Umweltschutzvereinigung GOB ist.

Der Musikwissenschaftler Amadeu Corbera hat die Geschichte de Siurell erforscht.
Er und seine Kolleginnen verorten den Ursprung der Siurells im nachrevolutionären Frankreich und Italien, was auch die Farben der Figuren erklärt. „Auf Mallorca hatten die Siurells anfangs keine große Bedeutung. Richtig populär wurden die Figuren erst Mitte des 20. Jahrhunderts”, erklärt der Wissenschaftler.

Die Ursache war wirtschaftlicher Natur: Beim Mythos von der urtypischen und archaisch-mallorquinischen Figur habe der aufkommende Massentourismus als Geburtshelfer gewirkt. „Im Zuge dieser Entwicklung wurden bestimmte Objekte betont, teils um das touristische Geschäft zu fördern, teils um ein Symbol der Identität zu konstruieren.”

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Fragt man Corbera, ob ihn die Ergebnisse seiner Forschung und die daraus folgende Entmystifizierung des Siurells enttäuscht habe, antwortet er ohne zu zögern: „Im Gegenteil, das ist eigentlich viel interessanter.” In der einfachen Tonfigur sieht er einige gesellschaftliche und politische Verhältnisse widergespiegelt.

Beispiel Rollenverteilung: In den Töpfer-Familien, in denen die Siurells hergestellt wurden, gab es eine strikte Geschlechtertrennung. Die Figuren wurden von den Frauen geformt, für die Pfeifen waren die Männer zuständig. „Selbst bei einem so einfachen Gegenstand lag die Kontrolle über die Technik, wie auch bei allem anderen, bei den Männern – und wenn sie bei den Frauen lag, dann deshalb, weil die Männer sie ließen”, kommentiert dies Corbera.

Auch mit umwelt- beziehungsweise verkehrs-politischen Themen lasse sich die Geschichte des Siurell verbinden. Hergestellt werde er nämlich aus der besonders resistenten weißen Tonerde. Heutzutage müsse sie aus Valencia importiert werden, erzählt Corbera. Grund: Über Mallorcas Hauptvorkommen dieser Erde bei Sa Cabaneta führe heute die Autobahn Palma-Inca.

Laut dem Wissenschaftler gibt es auf Mallorca heute nur noch vier Töpferinnen, die Siurells herstellen. Alle seien sie über 50 Jahre alt und nur eine von ihnen widme sich ausschließlich der Produktion dieser Figuren.

Ist der Siurell also vom Aussterben bedroht? Corbera zuckt mit den Achseln. „Das hat in den 1950er Jahren schon der amerikanische Anthropologe George Foster prophezeit, trotzdem gibt es ihn immer noch.”