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Es gibt keinen zweiten deutschen Schriftsteller, der Mallorca ein derartiges literarisches Denkmal gesetzt hat: Mehr als 900 Seiten umfasst der Roman "Die Insel des zweiten Gesichts", der 1953, vor nunmehr 60 Jahren, zeitgleich in Amsterdam und Düsseldorf erschien.

Der Autor Albert Vigoleis Thelen war fast 50 Jahre alt, als ihm mit dem Werk der Durchbruch gelang. Es war auch ein persönlicher Triumph: Jahrelang hatte Thelen als Rezensent und Übersetzer gearbeitet. Mit dem Roman bewies er sich und allen anderen, dass er das Zeug zum Schriftsteller hatte. Der Insel-Roman brachte ihm 1954 den renommierten Fontane-Preis der Stadt Berlin ein und erwies sich in jenen Jahren des Wirtschaftswunders und der häufig ungelebten Sehnsucht nach Reisen ans Mittelmeer zudem als beachtlicher Auflagenerfolg.

Dessenungeachtet ist Thelen, dessen Geburtstag sich am 28. September zum 110. Mal jährte, heute allenfalls eingefleischtesten Mallorca-Kennern ein Begriff. Kaum einer jener Millionen Bundesbürger, die sich Jahr für Jahr an den Stränden der Insel in der Sonnen aalen, hat von Thelen gehört geschweige denn den "Mallorca-Roman" gelesen. Für den Literaturwissenschaftler und Thelen-Experten Jürgen Pütz ist Thelen "… der große Unbekannte der deutschen Literatur", obgleich "Die Insel des zweiten Gesichts" als eines der großen literarischen Werke des 20. Jahrhunderts gilt.

Zugegeben: Das Werk fordert von seinem Leser allerhand ab: Es ist zäher Brocken mit anspruchsvoller Sprache und teils langatmigen Einschüben, die den Leser immer wieder von Mallorca wegführen. Doch wer sich einmal dem lyrischen Sprachfluss Thelens ergeben hat, wird sehr bald regelrecht fortgerissen vom Strom der irrwitzigen Abenteuer und grotesken Widrigkeiten im Inseldasein des Autors. Thelen, der als feingeistiger Anarcho-Katholik Zeit seines Lebens zwischen allen Stühlen saß , führte von 1931 bis 1936 auf Mallorca eine verkrachte Existenz als Schriftsteller, Sekretär, Reiseführer und (Über)-Lebenskünstler, bis ihn der ausbrechende Spanische Bürgerkrieg von der Insel vertrieb.

Wer heute durch das Zentrum von Palma flaniert, kommt an Straßen und Plätzen vorbei, die in dem Roman ihren Niederschlag gefunden haben. Auch die Anreise bleibt nicht unerwähnt.

Mit Flöhen und nach Geschlechtern getrennt, so segelten wir unter spanischer Flagge und spanischem Himmel der Insel entgegen.

An Bord der "Ciudad de Barcelona" waren Thelen und seine damalige Lebensgefährtin, die Schweizerin Beatrice Bruckner, nach Palma gereist, da ihr Bruder Zwingli, ein Hoteldirektor, im Sterben lag, wie es im Telegramm geheißen hatte. Ein Schmu des Bruders, der mit diesem Trick seine Schwester nach Mallorca lockte. Zwingli war damals mit einer stadtbekannten Lebedame, Pilar, liiert. Seine kultivierte Schwester sollte als Privatlehrerin der Geliebten Bildung nahebringen.

Thelen und Beatrice, von den Ereignissen völlig überrumpelt, wohnen, statt wie erhofft im Hotel Alfonso in Calamajor, in der Wohnung von Zwingli und Pilar in der Gasse Soledad, einer Parallelstraße des Borne, gegenüber der Hauptpost an der heutigen Plaça de la Constitució gelegen.

Da, wo die Soledad in einen freien Platz einmündet, der, von baufälligen Häusern umstanden, als eine weiße Staubwüste dalag, stand eine Schar von halbwüchsigen Burschen und zerlumpten Kindern um ein hochaufgeschossenes Mädchen geschart.

Das Kind war Julietta, Pilars Tochter, das sich angeblich auf dem bestem Weg befand, der Mutter in deren Beruf nachzufolgen.

Aber das war den Neuankömmlingen alles noch unbekannt. Stattdessen erlebten sie die Exotik des damaligen Palma:

Je mehr wir uns der Innenstadt näherten, desto lebhafter wurde der Verkehr, das Gewimmel und die brotmagere Geschäftigkeit der kleinen Leute, die es immer eilig haben, aus der Sonne herauszukommen - oder aus der Armut. (...) Eselchen trabten munter daher, alles an ihnen wackelte, die Ohren, der Schwanz und die Last, die ihnen aufgebürdet war: Körbe, Säcke, große Tongefäße mit Wasser, Mutter und Kind in der ewig rührenden Haltung einer Flucht aus Ägypten, Joseph am Stabe hintendrein.

Die familiären Diskrepanzen sind indes zu groß. Bald schon kommt es unweigerlich zum Eklat, die rabiate Pilar wirft Thelen und Beatrice gewaltsam aus der Bude. Die beiden ziehen zunächst in eine Pension im Carrer Apuntadores oder Sant Feliu, das ist nicht ganz eindeutig. Dort geht ihnen jedoch, nachdem sie zunächst Zwinglis Schulden beglichen hatten, bald das Geld aus, und so müssen sie in ein fragwürdiges Landhaus ziehen, das sich als Wochenend-Bordell entpuppt.

Erst nach all diesen Reinfällen bekommt das Paar allmächlich wieder festen Inselboden unter die Füße und rappelt sich mit diversen Jobs, unter anderem als Sprachlehrer, wieder soweit auf, dass es sich eine Wohnung mieten kann. Diese befindet sich im heutigen Carrer del Vi, damals Calle del General Barceló. Dort, wo diese Straße beim Zusammentreffen mit den Gassen Sant Feliu, Pau und Can Sales einen kleinen Platz bildet, befindet sich heute eine dreisprachige Gedenktafel, die an Thelen erinnert. Sie wurde 2005 vom Rathaus dort angebracht; in bester Thelen-Manier, zwei Jahre verspätet zum 100. Geburtstag.

Thelen wird früher täglich dort vorbeigekommen sein. In seinem Roman erwähnt er unter anderem die Apotheke, die Bäckerei, die (heute nicht mehr existenten Klöster), schlicht, das Leben in der Gasse des Generals Barceló:

... nur eine Straße führt seinen Namen, eine zudem, die selber nicht einmal die Bezeichnung Straße verdiente, würde sie sich an ihrem oberen Ende nicht ein ganz klein wenig verbreitern".

Thelen und Beatrice, sie hatten 1934 geheiratet, wohnten im ersten Stock des Hauses Nummer 23, heute die Nummer 11. Im Roman ist die Beschreibung der Bleibe nachzulesen:

Zwei Säle nach der düsteren Straße hin, ein langer Korridor, an dem zwei große Kammern lagen, dann ein geräumiges Zimmer, dessen Fenstertür auf einen weitläufigen Park hinausging: Palmen, Zedern, Orangen, Zitronen, Bananen, Mandeln, was man nur an halbtropischer Pflanzenwelt erwarten kann, lag vor meinem Blick, eine Oase in der Steinschlucht.

Dieser Eindruck hat sich bis heute erhalten, wenn man das seltene Glück hat, von den Bewohnern Einlass gewährt zu bekommen, um vom Dach einen Blick in den hinteren Garten zu werfen. Riesige Bäume, unter anderem eine Zeder und ein Eukalyptus, der bis zur fünften Etage hinaufreicht, zeigen üppige Pracht und lassen dahinter nur noch die Turmspitzen der Kathedrale von Palma hervorlugen.

Auch die Plaça Drassana mit ihren Bars und Platanen kommt in den Werk vor. Dort entspannte sich das Paar, wenn es die touristischen Führungen quer über Mallorca hinter sich gebracht hatte.

Beatrice und ich (...) saßen noch auf der Plaza Atarazanas und tranken uns den Staub aus der Kehle.

Der Inselroman ist überreich an Anekdoten, Beschreibungen, Begebenheiten zu Mallorca, seinen Menschen und seinen Besuchern. In dem Werk wird das gesamte Kaleidoskop der damaligen Inseldeutschen zur Sprache gebracht: Von jüdischen Emigranten und politischen Exilanten nach 1933 ist dort ebenso die Rede wie von deutschen Insel-Nazis, Kaufleuten, Handwerkern, Künstlern, Abenteurern. Mit seinem Roman hat Thelen eine längst vergangene Welt konserviert, die belegt, dass Mallorca schon damals so etwas wie eine "Lieblingsinsel der Deutschen" gewesen war.