Volker Weicker ist auf seinem Gebiet ein ausgebuffter Routinier. | Martin Breuninger

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Mallorca Magazin:Herr Weicker, was macht ein Live-Regisseur?
Volker Weicker:Es gibt einen ganz gravierenden Unterschied zwischen der fiktionalen Regie – sprich Fernsehfilm, Film –, der Dokumentation und Reportage, und der Live-Regie. Das ist in der Regel eine Mehr-Kamera-Produktion. Das heißt, das was später beim Film oder bei der Dokumentation und Reportage im Schnitt entsteht, also die Chronologie oder die Geschichte, erzählen wir quasi live in Echtzeit. Immer mehr werden zwar zwei oder drei Sendungen hintereinander aufgezeichnet, weil es sich besser rechnet. Aber eigentlich ändert das nichts an meiner Arbeitsweise.

MM:Eigentlich müssen Sie doch immer schon wissen, welches Bild Sie jeweils wollen.
Weicker:Klar, es wird inszeniert, wer wo reinkommt und wer wo rausgeht, wie die Band aufgebaut ist, was passiert. Aber wenn es dann läuft, versuche ich zu antizipieren, was gleich passieren könnte, oder darauf zu reagieren, was gerade passiert. Nehmen wir mal eine Talkshow, was mittlerweile ein Großteil der Arbeit ist. Im Idealfall ist das kein Abfragen, sondern es kommt zu einem Gespräch. Die Person, die spricht, ist ja kontrolliert, auch ihre Mimik. Bei denen, die zuhören, ist es anders. Manchmal gehen die Augenbrauen runter, der Kopf wird geschüttelt oder es wird genickt. Die Vielschichtigkeit eines solchen Gespräches hört man nicht nur verbal, sondern man sieht sie auch an Körpersprache, an Mimik, an Gestik. Man sieht, wer was wovon hält.

MM:Man kann das Geschehen vor Ort ja nicht eins zu eins über den Bildschirm bringen, weder bei einer Talkshow noch im Sport noch bei einer Casting-Show. Was transportieren Sie?
Weicker:Nehmen wir ein Sport-ereignis. Jemand geht ins Stadion, da ist Stimmung, er kauft sich seine Wurst und sein Bier, stellt sich zu den Fans oder sitzt auf seinem Sessel und guckt zu. Er hat ein ganz anderes Erlebnis, als derjenige, der sich das Spiel im Fernsehen anguckt. Aber von der Tribüne sehe ich immer die Totale. Mit Kameras ist das anders. Ich habe die Sound-Atmosphäre im Stadion, die Stimme des Kommentators und manchmal auch des Trainers. Dann bin ich in der Lage, immer die Spielübersicht zu bieten, aber in bestimmten Momenten auch nah ranzuspringen. Und durch die Möglichkeiten des Schnitts als auch der nachzuliefernden Zeitlupen sieht der Fernsehzuschauer das Foul und das Abseits nochmal, er sieht ein schönes Tor aus mehreren Perspektiven, er sieht nochmal den Jubel. Also im Endeffekt gibt es zu Hause einen Mehrwert. Mein Kunde ist ja nie der Sender oder der Produzent, sondern mein Kunde sitzt zu Hause auf der Couch, und den versuche ich, egal mit welchem Genre, so nah und so emotional wie möglich bei der Sache sein zu lassen. Natürlich ist das, was ich da mache, eine subjektive Entscheidung, und ich behaupte nicht, dass es hundertprozentig richtig ist, wie ich es mache.

MM:Trotzdem gelten Sie als der bedeutendste Live-Regisseur Deutschlands. Also müssen Sie irgendetwas richtig machen.
Weicker:Der Punkt ist: Wir übertragen ein Fußballspiel und sind der Meinung, wir waren an dem Tag als Team ordentlich, aber nicht richtig gut. Aber in der letzten Minute gewinnt die Mannschaft 2:1. Und das Ergebnis überstrahlt, was wir in dem Moment gemacht haben. Dann heißt das: „Tolle Bilder. Super wunderbar!” Drei Wochen später übertragen wir ein Fußballspiel, wo es genau andersherum ist: Wir sind der Meinung, dass wie es viel besser nicht hätten machen können. Die Mannschaft verliert aber 2:1. Kein Mensch interessiert sich dann für das, was wir da gemacht haben. Da ist die Niederlage das, was überstrahlt. Was auch immer vor der Kamera stattfindet: Ohne guten Sport gibt es keine großen Sport-Übertragungen.

MM:Sie machen ja nicht nur Sport. 2002 erhielten Sie zusammen mit dem damaligen stellvertretenden Redaktionsleiter und Chefmoderator von „RTL aktuell”, Peter Kloeppel, den Adolf-Grimme-Preis für ihre Live-Regie während des Attentats auf das World Trade Center am 11. September 2001.
Weicker:Ich war damals in Köln und wollte mich auf den Weg nach Gelsenkirchen zum Champions-League-Spiel Schalke 04 gegen Panathinaikos Athen machen. Ich setzte noch einen Bekannten bei RTL ab, und in dem Moment rief mich der damalige Informationsdirektor Hans Mahr an. Er sagte, ich solle das Auto stehen lassen und mich in die Regie setzen, da sei ein Flieger ins World Trade Center geflogen. Im Regieraum informierte ich mich, was passiert war, und fragte, was ich alles nutzen darf. Das ist eine entscheidende Frage, weil es auch um Bildrechte von Reuters, CNN und den ganzen Zulieferern geht, und die kosten Geld. Dann hieß es: Du kannst nutzen, was du willst, mach einfach!

MM:Und was haben Sie gemacht?
Weicker:Ich wollte einen zweiten Menschen haben, der vorschaut, was für Bilder laufen, weil ich keine allzu brutalen Bilder zeigen wollte oder Menschen, die aus Hochhäusern springen. Und ich brauchte jemanden, der Szenen immer wieder chronologisch zusammenschnitt, damit wir die Leute jede halbe Stunde mit einen Drei- bis Vierminüter auf den aktuellen Stand bringen konnten. Ich bin zwischen den unterschiedlichen Angeboten hin und her geswitcht, wir hatte ja zu dem Zeitpunkt keine eigene Kamera vor Ort. Dann nahmen wir Rolf Schmidt-Holtz dazu. Er arbeitete damals für Bertelsmann in New York und konnte von seinem Büro auf das World Trade Center gucken. Das Dramatischste war, dass er genau in dem Moment als Beobachter kommentierte, als die Türme zusammenfielen.

MM:So ein Ereignis lässt niemanden kalt. Wie geht man damit um?
Weicker:Dieses unmittelbare Sehen, wie alles passiert, war für uns alle neu. Aber auch wenn es dich emotional packt, musst du das auf eine gewisse Art und Weise ausblenden. Peter Kloeppel hat damals die richtigen Worte gefunden und ich habe mich einfach bemüht, das mit einer bestimmten Ruhe zu machen, mich einfach auf das zu beschränken, was gerade passiert. Weil egal wie meine emotionale Nähe in so einer Situation ist, ich kann es ja selber gar nicht verändern. Ich bin Tausende von Kilometern weg und kann nur versuchen, die Bilder dann aus den Angeboten auszuwählen und den Leuten dokumentarisch näherbringen, was gerade passiert. Auch das ist natürlich subjektiv.

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MM:Auf der anderen Seite führen Sie zum Beispiel bei „Deutschland sucht den Superstar” Live-Regie. Sind Sie da nicht versucht zu sagen: Das ist verglichen mit 9/11 Meerschweinchentheater?
Weicker:Natürlich gibt es Sendungen mit größerer und geringerer Relevanz. Das entscheidet aber jeder für sich selber. Ich bin manchmal ganz erstaunt, wer alles „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!” sieht. Menschen mit mediokrer Bekanntheit, die mich sowieso nicht interessieren, beim Scheitern zuzuschauen, hat für mich keinen Wert. Aber es gibt Leute, die ich schätze, die so etwas mit Begeisterung schauen. Sich darüber zu erheben, empfinde ich als arrogant. Der Spruch meines Vaters ist: „Der Liebe Gott hat einen großen Zoo.”

MM:… in dem Sie sich bestens auskennen.
Weicker:Ich hatte das große Glück, bei 3sat angefangen zu haben, Regie zu machen. Da war quasi alles, was Kultur war. Dann kam RTL, dann kamen die ganzen Spielshows, dann kamen Tennis, Fußball, Formel 1 und Boxen dazu. Dieser Spagat geht heute gar nicht mehr. Heute ist ein Talkregisseur ein Talkregisseur und ein Sportregisseur ein Sportregisseur. Ich hatte halt durch die „Gnade der frühen Geburt” die Möglichkeit, mich in allen Sachen auszutoben und Dinge auszuprobieren. Und ich glaube, dass das mir viel gebracht hat, aber im Umkehrschluss auch den Zuschauern, weil ich bestimmte Techniken, die ich beim Sport hatte, in die Unterhaltung gezogen habe und umgekehrt, um dadurch einen Mehrwert zu schaffen. Vom Prinzip her, nehmen wir mal 9/11 oder Nachrichtensendungen aus, verkaufen wir ja immer eine Emotion.

MM:Heißt das, dass es bei einer Castingshow weniger um Sieg als um Emotionen geht?
Weicker:Es gewinnt selten der beste Sänger oder die beste Sängerin, sondern immer diejenigen, die die Leute emotional berühren. Am Ende geht es immer um die Leute: Leute interessieren sich für Leute.

MM:Ein ganz anderes Format sind die Kanzlerduelle, von denen Sie viele gemacht haben, von Schröder gegen Stoiber bis Merkel gegen Steinbrück. Wie kamen Sie zu dieser Sendung?
Weicker:Ich glaube, das hat maßgeblich damit zu tun, dass man davon ausging, und das ist so, dass ich nicht nervös zu machen bin. Ich unterliege auch nicht großen emotionalen Schwankungen, so dass das immer glatt durchläuft.

MM:Was fanden Sie an den Kanzlerduellen reizvoll?
Weicker:Ab dem zweiten Kanzlerduell wurden alle Sender gleichgeschaltet, darin lag meiner Meinung nach die Qualität. Nicht dass die Leute danach unbedingt wussten, wo sie ihr Kreuz machen sollten, das glaube ich nicht. Sie mussten sich aber mal eineinhalb Stunden lang mit Politik auseinandersetzen.

MM:Wie viele Absprachen gab es bei den Fragen?
Weicker:Die Themenblöcke waren klar, die Fragen waren nicht abgesprochen. Man konnte eh nicht erwarten, dass einer der beiden plötzlich ein Statement loshaute, von dem wir alle noch nie etwas gehört hatten. Ich weiß, dass die Kanzlerkandidaten teilweise zumindest das Pult nachgebaut und geübt hatten, wie das ganze geht. Ich weiß das, weil ich mit dem einen oder anderen Berater persönlich bekannt oder gar befreundet war. Kleine Anekdote am Rande: Im Berliner „Tagesspiegel” gibt es jeden Tag auf der ersten Seite eine kleine Spalte mit dem Gesicht des Tages. Und am Tag des ersten Kanzlerduells erschien eine Zeichnung von mir, weil man der Meinung war, dass die Fernsehregie die Wahl entscheiden kann. Bullshit, kann sie nicht! Was würde ich mir anmaßen, den einen gut und den anderen schlecht aussehen zu lassen! Und alle Kameraleute, die da waren, hatten sich den „Tagesspiegel” gekauft, das gezeichnete Bild von mir ausgeschnitten und auf ihre Ausweise geklebt. Trotz der hohen Sicherheitsvorkehrungen sind alle mit diesen Ausweisen hereingekommen. (Lacht)

MM:Wie viele Sendungen haben Sie gemacht?
Weicker:Ich würde denken, dass ich seit 1985, 1986 an die 15.000 Fernsehsendungen gemacht habe. Früher stand der Job vor allem, ich habe jahrelang 300 Tage gearbeitet. Das ist tatsächlich der Situation geschuldet, dass ich weitgehend frei war von negativen Routinen. Ich mache ein Kinderprogramm, die nächsten drei Tage eine Kochshow, dann fahre ich zu Dieter Nuhr, dann bin ich bei Markus Lanz, dann bin ich in Dessau und mache Musik, dann mache ich „Schlag den Star” für ProSieben, also völlig unterschiedliche Dinge, und deswegen ist es mir auch nie langweilig geworden. Ich habe immer gerne gearbeitet und bin auch heute noch gerne im Studio und auf Reisen. Leider gehen dann auch viele soziale Kontakte vor die Hunde. Aber – ich würde es jederzeit wieder so machen.